Verbale Entwicklungsdyspraxie

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Die verbale Entwicklungsdyspraxie ist eine Sprechstörung, die ihre Ursache vermutlich in einer unzureichenden Fähigkeit zur Sprachplanung hat und durch Lautbildungsfehler sowie verzögerte Sprachentwicklung gekennzeichnet ist. Die Patienten artikulieren sich meist kaum oder gar nicht verständlich. Bislang gestaltet sich die Therapie der Betroffenen schwierig und erfordert eine engagierte Mitarbeit von Bezugspersonen der Patienten.

Inhaltsverzeichnis

Was ist eine verbale Entwicklungsdyspraxie?

Die ersten Symptome einer verbalen Entwicklungsdyspraxie zeigen sich bereits früh in der Kindheit. Das mitunter erste Anzeichen ist eine reduzierte Lalllautbildung und Plapperproduktion im frühen Säuglingsalter.
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Die Stimmbildung ist ein komplexer Prozess, an dem unterschiedliche Muskelgruppen und eine bestimmte Atemtechnik beteiligt sind. Unterschiedliche Störungen können im Bereich der Stimmbildung und Artikulation auftreten. Eine solche Störung ist die verbale Entwicklungsdyspraxie. Unter der Dyspraxie versteht die Medizin einen erschwerten Ablauf von Entwicklungsschritten oder Handlungen.

Bei der verbalen Entwicklungsdyspraxie handelt es sich also um eine Entwicklungsstörung, die das kindliche Sprechen betrifft und sich in mangelhafter Aussprache manifestiert. Die Sprachstörung zählt zu den umschriebenen Entwicklungsstörungen von Sprechen und Sprache und ist in diesem Zusammenhang von der sogenannten Apraxie zu unterscheiden.

Eine verbale Apraxie erschwert die Sprachentwicklung nicht nur, sondern lässt sie vollständig ausbleiben. Bei verbalen Dyspraxien besteht eine generelle Sprachfähigkeit, aber die Artikulation ist Störungen unterworfen. Die verbale Dyspraxie ist eine reine Sprechstörung ohne Sprachverständnisbeeinträchtigung.

Ursachen

Der Ursprung der verbalen Entwicklungsdyspraxie ist bislang nicht vollständig geklärt. Zur Ätiologie existieren unterschiedliche Hypothesen. Eine dieser Hypothesen geht von einem Ursprung auf Ebene der Sprechbewegungsplanung und Sprachbewegungsprogrammierung aus. Die Betroffenen sollen demnach keine ausreichenden Fähigkeiten besitzen, um die sprachproduktionsrelevanten Bewegungen in die räumlich und zeitlich erforderliche Beziehung zu stellen.

Als Primärursache einer derartigen Beeinträchtigung kommen Stoffwechselstörungen und neurogene Störungen in Frage. Auch genetische Disposition wird in diesem Zusammenhang als Ursache diskutiert. Aufgrund der gestörten Bewegungsplanung sollen die betroffenen Kinder nur eingeschränkt die Fähigkeit zur Artikulation von geplanten Äußerungen besitzen.

Viele Wissenschaftler sprechen von einer Unfähigkeit zum willkürlich kontrollierten Einsatz der Artikulationsorgane. Die verbale Entwicklungsdyspraxie stört die Entfaltung des gesamten Sprachsystems. Nur das Sprachverständnis der Patienten ist nicht gestört.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Die ersten Symptome einer verbalen Entwicklungsdyspraxie zeigen sich bereits früh in der Kindheit. Das mitunter erste Anzeichen ist eine reduzierte Lalllautbildung und Plapperproduktion im frühen Säuglingsalter. Darüber hinaus ist ein verzögerter Spracherwerb eines der charakteristischsten Merkmale der Sprechstörung.

Die Verzögerung des Spracherwerbs kann extreme Ausmaße annehmen. Nichtsdestotrotz sind die Betroffenen geistig dazu in der Lage, von anderen Artikuliertes nachzuvollziehen. Die eigens artikulierten Laute der Patienten sind kaum verständlich. Unterschiedliche Lautbildungsfehler sind dafür verantwortlich.

Zu diesen höchstvariablen Lautbildungsfehlern zählt typischerweise zum Beispiel die Auslassung, die Substitution, die Vertauschung oder die Addition. Auch Wiederholungen und unangemessene Verlängerungen der artikulierten Konsonanten oder Vokale können vorkommen. In vielen Fällen „verlieren“ die betroffenen Kinder bereits erlernte Wörter nach gewisser Zeit wieder.

Darüber hinaus sind Suchbewegungen typisch. Manche Patienten positionieren die Lippen und Zunge während einer Äußerung still nach vorne. Die gestörte Lautbildung und die genannten Lautbildungsfehler sind als Hauptsymptom der sprachlichen Dyspraxie zu verstehen.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Die Diagnose einer verbalen Entwicklungsdyspraxie wird vom Logopäden gestellt. Nach der ersten Kontaktaufnahme mit dem Sprachtherapeuten beurteilt er den Lautbildungsprozess und die Umsetzung der dazu relevanten Bewegungen. Die Prognose für Patienten mit verbaler Entwicklungsdyspraxie hängt vor allem vom Zeitpunkt der Diagnosestellung ab.

Je später die Diagnose gestellt wird, desto mehr ist die Entfaltung der gesamten Sprachentwicklung beeinträchtigt und desto schwerer und längerfristig gestaltet sich die Therapie. In den meisten Fällen wird die Diagnose der Dyspraxie erst gestellt, wenn sich der Patient wegen anderer Zusammenhänge bereits in logopädischer Behandlung befindet. Oft entwickelt sich der erste Verdacht auf die verbale Entwicklungsdyspraxie in diesem Zusammenhang erst dann, wenn der Patient in logopädischer Betreuung wenige oder keine nennenswerten Fortschritte macht.

Komplikationen

Bei dieser Erkrankung leiden die Patienten an einer stark ausgeprägten Sprachstörung. In der Regel wird dabei der Spracherwerb deutlich verzögert, sodass die Patienten auch im Kindesalter noch nicht richtig sprechen können. Die Erkrankung wirkt sich dadurch sehr negativ auf den Alltag und ebenso auf die Entwicklung des Kindes aus.

Die meisten Patienten leiden dabei vor allem im Kindesalter an Mobbing oder an Hänseleien und können psychische Beschwerden entwickeln. Weiterhin kommt es zu geistigen Einschränkungen, sodass die Betroffenen in der Schule eine besondere Hilfe benötigen. Aufgrund der Sprachbeschwerden kommt es auch im Alltag und bei der sozialen Interaktion zu Beschwerden oder zu Komplikationen.

Auch im Erwachsenenalter treten dabei Beschwerden auf. Da eine Selbstheilung dieser Krankheit in der Regel nicht eintritt, sind die Betroffenen immer auf eine Behandlung angewiesen. Diese kann durch verschiedene Therapien stattfinden und führt in der Regel nicht zu weiteren Komplikationen. Mit Hilfe verschiedener Übungen werden die Beschwerden dabei eingeschränkt.

Eine vollständige Heilung wird in der Regel allerdings nicht erreicht. Die Erkrankung wirkt sich nicht negativ auf die Lebenserwartung des Patienten aus und verringert diese nicht. In einigen Fällen können auch die Eltern oder die Angehörigen an psychischen Beschwerden oder an Depressionen leiden.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Zeigen sich in der Entwicklung und Wachstumsphase des Kindes Auffälligkeiten der Sprachgebung, sollte ein Arzt von den Beobachtungen unterrichtet werden. Eine verzögerte Sprachentwicklung gilt als Warnsignal des menschlichen Organismus und ist entsprechend mit dem betreuenden Kinderarzt zu besprechen. Eine ungewöhnliche Lalllautbildung, die im Vergleich zu gleichaltrigen Kindern besonders hervorsticht, ist charakteristisch für die Erkrankung. Für eine frühestmögliche Diagnosestellung und die Erstellung eines individuellen Behandlungsplans wird ein Arzt benötigt. Je eher die Besonderheiten der Sprachgebung therapeutisch behandelt werden können, desto besser sind die langfristigen Erfolge.

Wird beim Sprechen die Positionierung von Lippen und Zunge ungewöhnlichen Bewegungen ausgesetzt, ist dies als Anzeichen einer Störung zu verstehen. Halten die Beschwerden an oder nehmen sie an Intensität zu, sollte ein Arztbesuch erfolgen. Kann ein Kind bereits erlernte Wörter nach kurzer Zeit nicht mehr eigenständig reproduzieren, gilt dies als besorgniserregend. Es ist zu prüfen, ob es sich um ein besonders schweres Wort handelt oder es in der Kommunikation des normalen alltäglichen Geschehens häufig verwendet wird. Tritt bei dem letzteren Fall überraschend oft die Unfähigkeit einer Reproduktion eines bereits bekannten Wortes auf, ist dies mit einem Arzt zu besprechen. Eine unverständliche Aussprache und Besonderheiten der Tonalität sollten ebenfalls einem Arzt vorgestellt werden.

Behandlung & Therapie

Die Behandlung von verbaler Entwicklungstherapie stellt den Logopäden vor eine Herausforderung. Eine Cochrane-Analyse aus dem Jahr 2008 fasst zusammen, dass es bei aktueller Studienlage keine erfolgsversprechenden Therapieformen für die Patienten gibt. Die klinische Erfahrung beweist, dass sämtliche mundmotorische Übungen und logopädischen Schritte nicht sonderlich zielführend sind.

Der Grund dafür ist die Ursache der Dyspraxie, die vermutlich in der Sprachplanung selbst liegt. Aktuell scheint nur ein möglicher Therapieansatz zur Behandlung der Patienten in Frage zu kommen. Dabei handelt es sich um die multisensorielle Assoziationsmethode. Die Betroffenen werden bei dieser Art von Therapie dazu bewegt, den einzelnen Lauten Hinweisreize zuzuordnen.

Diese Hinweisreize sind entweder visueller oder taktil-kinästhetischer Natur. Diese Zuordnung muss mit hoher Wiederholungsrate erfolgen, damit die einzelnen Übungsinhalte automatisiert werden können. Auf lange Frist kann auf diese Weise eine anteilige Automatisierung einzelner Sprechbewegungsabläufe erreicht werden.

Aufgrund des Erfordernis extrem hoher Wiederholungsraten hängt der Erfolg der Therapie vor allem vom Umfeld der Betroffenen ab. Die einzelnen Bezugspersonen der Patienten müssen intensiv in die Arbeit eingebunden werden und eine tiefgehende Einführung in die Eckpfeiler der Therapie erhalten. Ohne eine derartige Einbindung der Bezugspersonen bleibt die Therapie letzten Endes zwecklos.

Ein weiterer Behandlungsansatz stellt TAKTKIN nach Birner-Janusch dar. Hierbei handelt es sich um eine logopädische Behandlungsmethode zur Behandlung sprechmotorischer Störungen. TAKTKIN steht für die TAKTil-KINästhetische Stimulationsmethode bei Sprechstörungen.

Ebenso bietet sich die Möglichkeit zur Behhandlung nach der VEDiT-Therapie nach A. Schulte-Mäter an. VEDiT ist ein Therapieansatz, der eigentlich für Kinder mit verbaler Entwicklungsdyspraxie konzipiert wurde, sich aber auch bei anderen Ausprägungen von sprachlichen Artikulationsstörungen als sehr effizient erwiesen hat.


Vorbeugung

Bislang lässt sich über die Ursachen einer verbalen Entwicklungsdyspraxie nur spekulieren. Aus diesem Grund stehen keine prophylaktischen Maßnahmen zur Vorbeugung zur Verfügung. Da auch logopädische Maßnahmen und mundmotorische Übungen keine Wirkung zeigen, lassen sich solcherlei Schritte ebenso wenig als Vorbeugemaßnahme bezeichnen. Nichtsdestotrotz hilft die relativ frühe Diagnose durch einen Fachmann dabei, die Störung noch zu beheben.

Nachsorge

Die Entwicklung des Spracherwerbs ist keine Selbstverständlichkeit und vollzieht sich nicht immer problemlos, sondern kann unter erschwerten Bedingungen verlaufen. Solche Schwierigkeiten mit der Sprache werden als verbale Entwicklungsdyspraxie bezeichnet. In der Regel fallen sie bereits im kindlichen Alter auf, wenn der Spracherwerb stattfindet.

Je eher die Therapie einsetzt, umso günstiger sind die Prognosen für eine erfolgreiche Beseitigung der Sprachstörung. Eine Nachsorge ist ratsam, um den Erfolg beizubehalten und die kindliche Freude an der Beschäftigung mit Worten auch für die Zukunft zu erhalten. Die Nachsorge findet im logopädischen Rahmen statt. Ausschlaggebend für eine Heilung ist ein vertrauensvolles Verhältnis zwischen Kind und Therapeut.

Daher sollte sich der Logopäde dem Betroffenen auf empathische Weise annähern. Die nachsorgende Behandlung kann bei Kindern auf spielerische Art durchgeführt werden, der Therapeut denkt sich Sprachspiele aus und weckt damit das Interesse des Kindes am Sprechen. Sollte die Entwicklungsdyspraxie negative Reaktionen bei Gleichaltrigen oder auch Eltern und Verwandten hervorrufen, ist eine parallele Psychotherapie sinnvoll. Das kindliche Selbstbewusstsein soll stabilisiert werden, damit es keinen bleibenden Schaden nimmt. Die Nachsorge kann sich gleichzeitig auf die Eltern ausweiten, falls sie die Entwicklungsstörung ihres Kindes nicht akzeptieren können oder wollen.

Das können Sie selbst tun

Eine Verbale Entwicklungsdyspraxie kann mit Hilfe verschiedener Therapieformen behandelt werden. Hierfür ist intensives Training vonnöten. Betroffene Kinder benötigen eine feste Bezugsperson, welche möglichst täglich mit ihnen übt und sie langfristig zu einer ausreichenden Mundkorrigierung bewegt. Die Eltern sind dazu angehalten, das Kind zum Sprechen zu ermutigen. Die wirksamste Methode ist Kommunikation, denn dadurch werden die Sprechbewegungsabläufe automatisiert.

Begleitend dazu sollte das Kind detailliert über die Entwicklungsstörung aufgeklärt werden. Hierfür bietet sich kindgerechte Literatur an. Auch der Besuch in einem Fachzentrum und der Kontakt mit anderen betroffenen Kindern sind wichtige Maßnahmen, die zu einem besseren Verständnis der Verbalen Entwicklungsdyspraxie beitragen. Betroffene Kinder müssen in der Regel eine Sonderschule besuchen. Aufgrund der langen Wartelisten sollte die Anmeldung an einer entsprechenden Institution möglichst frühzeitig erfolgen. Auch Nachhilfelehrer sowie weitere Begleitmaßnahmen gilt es schon in den ersten Lebensjahren des Kindes zu organisieren.

Welche Maßnahmen im Detail sinnvoll und notwendig sind, muss gemeinsam mit dem zuständigen Arzt besprochen werden. Eltern wenden sich am besten an den Facharzt, der den Kontakt zu einem geeigneten Logopäden herstellen kann.

Quellen

  • Arnold, W.: Checkliste Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Thieme, Stuttgart 2011
  • Kochen, M.M.: Duale Reihe. Allgemeinmedizin und Familienmedizin. Thieme, Stuttgart 2012
  • Probst, R., Grevers, G., Iro, H.: Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Thieme, Stuttgart 2008

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