Psychische Deprivation

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

Sie sind hier: Startseite Krankheiten Psychische Deprivation

Eine psychische Deprivation bezeichnet die mangelnde seelische Zuwendung zwischen sich nahe stehenden Menschen. Besonders Kinder in den ersten Lebensjahren leiden an dieser Verarmung der Gefühle vorrangig seitens ihrer Eltern. Eine solche psychische Entwicklungsstörung wirkt sich mehr oder weniger nachteilig auf ihre spätere Bindungsfähigkeit gegenüber einem Lebenspartner und auch das Gestalten von Freundschaften aus.

Inhaltsverzeichnis

Was ist psychische Deprivation?

Weil die emotionalen Bedürfnisse eines betroffenen Kindes derart ungenügend erfüllt worden sind, sollten in der Therapie daher zunächst auch die bisherigen gefühlsmäßigen Erfahrungen aufgearbeitet werden.
© motortion – stock.adobe.com

Die betroffenen Kinder und Jugendlichen entwickeln mit einer psychischen Deprivation nur erschwert und verzögert die Fähigkeit, persönliche soziale Rollen auszufüllen. Ihnen mangelt es in der Regel an wichtigen Voraussetzungen, tiefere und aufrichtige Beziehungen zu Gleichaltrigen aufzubauen. Deutlich erkennbar sind außerdem negative Voraussetzungen für die alltägliche Reizempfänglichkeit sowie das zielgerichtete Lernen.

Häufig lassen diese jungen Menschen Schwierigkeiten bei ihrer sprachlichen Entwicklung, und damit auch dem Lesen und Schreiben erkennen. Die Ursachen für eine solche seelische Erkrankung lassen sich im Wesentlichen auf Versäumnisse in der Erziehung zurückführen. Die gestörten Gefühlsbindungen zwischen Vater beziehungsweise Mutter zum eigenen Kind entstehen oft aus depressiven Zuständen seitens der Eltern.

Mitunter spielen auch Zeiten der Isolation und Abgeschiedenheit des Kindes, etwa wegen einer Trennung, eine Rolle. Hier spielen ebenso längere Aufenthalte im Krankenhaus oder Kinderheim eine entscheidende Rolle, bei denen der regelmäßige Kontakt mit den Eltern oder nahen Verwandten abreißt.

Ursachen

Der Begriff psychische Deprivation geht auf den tschechischen Seelenforscher und Kinderpsychologen Zdenek Matejcek (1922-2004) zurück. Er fasste die Erkrankung als psychisches Mangelleiden eines in der Entwicklung begriffenen Kindes, dem wenig seelische Verbundenheit zu Teil wird.

Abzugrenzen davon sind physische Deprivation (mangelhafte Ernährung), sensorische Deprivation (fehlende Sinnesreize), sprachliche Deprivation (eingeschränkte Stimulation), und soziale Deprivation (Isolation). Übergreifend wird von einem Mangel an Erziehung gesprochen, einem ernst zu nehmenden pädagogischen Defizit. Je eher die Behandlung der psychischen Deprivation beginnt, umso besser sind die Möglichkeiten, ihre vielfältigen Folgen vollends zu umgehen, beziehungsweise zu heilen.

Die Therapie ist ein äußerst langwieriger Prozess, weil es sich um eine sehr komplexe psychische Störung handelt. Die Behandlung wird auch nur dann erfolgreich sein, wenn Eltern, Kinder- und Jugendpsychologen, Pädagogen, Sozialarbeiter, und unter Umständen auch Neurologen eng zusammenwirken.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Weil die emotionalen Bedürfnisse eines betroffenen Kindes derart ungenügend erfüllt worden sind, sollten in der Therapie daher zunächst auch die bisherigen gefühlsmäßigen Erfahrungen aufgearbeitet werden. Das Kind benötigt neue beziehungsweise erstmalige Anhaltspunkte für reichere, verlässlichere Beziehungen zu anderen Menschen.

In erster Linie ist der Therapeut selbst eine solche Person, die eine vertrauensvolle Basis zum Kind herstellen kann. Ebenso kommt in vielen Fällen der Umzug des Kindes in eine intakte und geeignete Pflegefamilie in Betracht.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Die besten Chancen für eine vollständige Rückbildung der psychischen Deprivation ergeben sich nach Auffassung einiger Psychologen mit einem Behandlungsbeginn vor dem achten Lebensjahr. In der späteren Schulzeit bestehen zumeist nur noch günstige Ansatzpunkte dafür, wirken aber auch zunehmend negative Faktoren auf eine erfolgreiche Therapie ein.

Noch wesentlich geringer sind die Heilungsaussichten im Erwachsenenalter, zumal dann unter Umständen eigene Kinder vor wiederkehrenden psychischen Gefährdungen stehen. Eine diesbezügliche Aufklärung der Eltern über Voraussetzungen eines werthaltigen Zusammenlebens mit den leiblichen Kindern, sowie deren eigene Verhaltensmuster in der Erziehung ist untrennbar mit der erfolgreichen Therapierung verbunden.

Zdenek Matejcek etwa ging von der Überzeugung aus, dass diese Aufklärung unter einer Elterngeneration eine präventive Maßnahme ist, um der psychischen Deprivation kommender Kindergenerationen wirksam zu begegnen.

Komplikationen

In der Regel führt diese Krankheit zu verschiedenen psychischen Beschwerden bei den Betroffenen. Vor allem im Kindesalter kann es zu schwerwiegenden Beschwerden im Erwachsenenalter kommen, sodass das Knüpfen und Aufrechterhalten sozialer Kontakte möglicherweise nicht ohne Weiteres möglich ist. In vielen Fällen führt dies auch zu psychischen Beschwerden oder zu starken Depressionen, die sich sehr negativ auf die Lebensqualität des Betroffenen auswirken können.

In der Regel misstrauen die Betroffenen anderen Menschen grundsätzlich und können dabei keine feste Bindung aufbauen. Weiterhin kann sich diese psychische Störung auch negativ auf die Beziehung zum Partner auswirken. Damit kann diese Krankheit auch zu verschiedenen Phobien oder zu anderen psychischen Störungen führen. Ein allgemeiner Verlauf kann aus diesem Grund nicht gegeben werden. Die Behandlung führt in der Regel nicht zu weiteren Komplikationen.

Falls die Behandlung schon im Kindesalter begonnen wird, erhöhen sich die Aussichten auf eine vollständige Heilung im Erwachsenenalter. Allerdings kommt es nicht in jedem Falle zu einem Erfolg bei der Behandlung. Aus diesem Grund ist die Beachtung der körperlichen Nähe bei einer Erziehung durch die Eltern sehr wichtig.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Erwachsene und Kinder, die über mehrere Wochen oder Monate ein herabgesetztes Wohlbefinden zeigen oder aufgrund eines schicksalhaften Ereignisses Probleme mit der Verarbeitung der Erlebnisse zeigen, sollten von einem Arzt oder Therapeuten begutachtet werden. Kommt es zu einem starken Rückzugsverhalten, einem allgemeinen Krankheitsgefühl, Apathie, Teilnahmslosigkeit oder einer Abnahme der Belastbarkeit, ist eine Ursachenforschung angezeigt. Bei einer Weinerlichkeit, einem blassen Hautbild, innerer Schwäche, Müdigkeit oder Schlafstörungen sollte ein Arztbesuch erfolgen. Eine Abnahme des Körpergewichts und Unrechtmäßigkeiten des Verdauungstraktes sind ebenfalls abklären zu lassen.

Handelt es sich um eine vorübergehende Erscheinung aufgrund von Stress oder Herausforderungen des Lebens, wird in vielen Fällen keine ärztliche Konsultation benötigt. Liegen jedoch über eine lange Zeit Besonderheiten des Verhaltens vor, benötigt der Betroffene Hilfe. Ein anhaltender Motivationsverlust, mangelnde Lebensfreude oder Traurigkeit können zu schweren psychischen Störungen führen.

Daher sollte ein Therapeut aufgesucht werden, wenn im Alltag keine lebenserheiternden Maßnahmen greifen und der Betroffene es nicht aus eigener Kraft schafft, Veränderungen herbeizuführen. Können die gewohnten Anforderungen nicht mehr bewältigt werden, stellt sich eine Interessenlosigkeit ein oder werden alle Ereignisse des Lebens grundsätzlich negativ bewertet, besteht Handlungsbedarf. Greifen die üblichen Anreize oder Anregungen für den Aufbau von glücklichen und lebensbejahenden Momenten nicht, sollte eine Kontrolluntersuchung eingeleitet werden.

Behandlung & Therapie

Wie elementar wichtig diese sein kann, zeigt sich am schwierigen Bindungsverhalten der Patienten mit psychischer Deprivation. Sie leiden im Erwachsenenalter gegebenenfalls unter einer bedrückenden Abhängigkeitssituation zu einem bestimmten, meist älteren Menschen.

Gleichzeitig kann sie eine beinahe panische Beziehungsangst überfallen, deren Grundlage wiederum die erworbene Gefühlsarmut ist. Damit im Zusammenhang stehen typischerweise auch überzogene Ansprüche an materiellen Besitz, Liebesbezeugungen, den allgemeinen Lebensstil.

Mit Rückschlägen, Verlusten und Einbußen können diese Menschen nur sehr schlecht umgehen. In ihrer beruflichen Entwicklung sind sie oft duldsam, und scheuen die Übernahme von Verantwortung. Andererseits wollen sie die fehlende emotionale Zuwendung sowie ihre gesellschaftliche und soziale Abseitsstellung durch das auffällige Konsumieren materieller Güter kompensieren.


Vorbeugung

Es zeigt sich angesichts dieser Konsequenzen, wie entscheidend ein ausgewogenes und vertrauensvolles Familienleben auch und gerade in einer modernen Konsumgesellschaft ist. Um die grundlegenden Lebensbedürfnisse eines Kindes in physischer, emotionaler, intellektueller und moralischer Hinsicht zu erfüllen, hat jedes Familienmitglied gegenüber dem anderen eine spezielle und vielseitige Rolle inne.

Zu Beginn ist die Mutter noch die ausschlaggebende Bezugsperson, dann aber rücken der Vater und die Geschwister mehr in den Mittelpunkt. Später wirken dann das soziale Umfeld der Familie und ihre Stellung in der Gemeinschaft prägend auf die Entwicklung eines Kindes ein. Diese gilt es zu pflegen und zu entwickeln.

Im Grunde ist jedes kleinere Kind, dem in der Familie eine Bezugsperson fehlt, oder ersatzlos verloren geht, durch eine psychische Deprivation gefährdet. Je jünger es ist, desto größer ist diese Bedrohung. Doch keineswegs ist selbst eine Mutter nicht durch ein anderes Familienmitglied ersetzbar, wenn dieses die gewohnte liebevolle Zuwendung zum Kind ausfüllen kann. So können auch Kinder aus vater- oder mutterlosen Familien glücklich und gesund groß werden.

Nachsorge

Psychische Deprivation in einer frühen Lebensphase, etwa ein Mangel einer frühkindlichen Bindung an eine oder mehrere Bezugspersonen ist im eigentlichen Sinn nicht reversibel und stellt für das restliche Leben eine gewisse Herausforderung dar. Nach einer erfolgreichen Therapie, die zugleich eine positive Beziehungserfahrung darstellt, ist es für Betroffene wichtig, darüber hinaus stabile und langfristige Bindungen zu anderen Personen zu pflegen.

Die "Spuren" der psychischen Deprivation können auch auf physiologischer Ebene nicht vollkommen getilgt werden. Es besteht aber die Aussicht, dass ein durch die Deprivation entstandener unsicherer (zumeist vermeidender) Bindungsstil sich im Laufe der Zeit verändert und sichere Bindungen möglich werden. Das ist aber nur möglich, wenn zumindest eine dauerhafte, vertrauensvolle Beziehung entsteht - bei Kindern kann das etwa eine Pflegefamilie sein.

Auch nach einer erfolgreichen Therapie können im späteren Verlauf der Biografie erneut Beschwerdemuster auftreten, die mit der Erfahrung der psychischen Deprivation in Zusammenhang stehen. Dies kann passieren, wenn Erinnerungen durch äußere Einflüsse wieder aktualisiert werden, etwa wenn Betroffene selbst Eltern werden. Je nach persönlicher Resilienz können auch Folgeerkrankungen wie Depressionen oder Angsterkrankungen auftreten. In solchen und den oben genannten Fällen kann eine erneute psychotherapeutische Betreuung sinnvoll sein.

Das können Sie selbst tun

Menschen, die unter einer mangelnden Befriedigung ihrer eigenen Bedürfnisse leiden, können sich selbst Hilfe und Unterstützung über die Teilnahme an einer Verhaltenstherapie holen. Dort erlernen sie, wie sie strukturiert und angepasst an ihre individuellen Vorgaben ihre eigenen Bedürfnisse wahrnehmen und erfüllen können. Darüber hinaus wird der Aufbau emotionaler Bindungen erlernt. Der Kontakt zu den Mitmenschen sollte im Alltag auch ohne einen Therapeuten bewusst gefördert werden.

Die Mitarbeit bei der Veränderung ist essentiell für eine Verbesserung des Wohlbefindens. Die Nutzung von Freizeitangeboten an der näheren Umgebung kann dabei helfen, Menschen kennenzulernen und dadurch Bindungen aufzubauen. Kontaktbörsen, Social Media Portale oder andere Foren im Internet sind ebenfalls eine Möglichkeit, um seinen Bekanntenkreis zu erweitern. Über Chats oder den Austausch von Sprachnachrichten mit anderen Menschen kann der Kontakt gepflegt werden. Gleichzeitig werden dadurch emotionale Bande geknüpft. Zudem kann jeden Tag beispielsweise über die Erstellung einer Liste mit einer Aufzählung von Bedürfnissen gearbeitet werden. Die Liste sollten einfache wie auch herausfordernde Punkte enthalten.

Anschließend kann der Betroffene objektiv prüfen, welches Bedürfnis sich im Verlauf des Tages realistisch befriedigen lässt. Gelingt dies, ist für einen Moment der Fokus der Aufmerksamkeit bewusst auf den Prozess von der Wahrnehmung des Bedürfnisses bis zu dessen Erfüllung zu richten.

Quellen

  • Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
  • Lieb, K., Frauenknecht, S., Brunnhuber, S.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer, München 2015
  • Morschitzky, H.: Angststörungen – Diagnostik, Konzepte, Therapie, Selbsthilfe. Springer, Wien 2009

Das könnte Sie auch interessieren