Individuation
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 13. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Individuation ist die Entfaltung eigener Fähigkeiten und die Suche nach eigenen Werten. Damit steht der Begriff oft gleichbedeutend mit dem der Selbstverwirklichung. Der Konflikt Individuation vs. Abhängigkeit wird als eine Hauptquelle für psychische Erkrankungen betrachtet.
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Was ist die Individuation?
Mit dem Begriff der Individuation umschreibt die Psychologie den Weg zu einem Selbst als eigenem Ganzen. Individuation wird so als Prozess des Ganzwerdens verstanden, der den Menschen zur eigenen Einzigkeit und Individualität finden lässt.
Der Mensch wird durch diesen Prozess zu dem Individuum, das er tatsächlich und unabhängig von anderen ist. Neben der Entfaltung seiner Fähigkeiten und Möglichkeiten zählt zu diesem Vorgang die Bewusstwerdung der eigenen Individualität. Nach der Individuation erlebt sich der Mensch als etwas Einmaliges und verwirklicht sich als etwas Eigenes.
Die Individuation als psychologisches Konzept geht auf C. G. Jung zurück, der den Prozess für als einen lebenslangen Vorgang zur Annäherung an das eigene Selbst sah. Mit seinem Individuationsverständnis grenzte sich Jung von Sigmund Freuds Ansichten zum selben Thema ab und bewegte sich eher auf Seiten Alfred Adlers. Jung betonte in seinen Ausführungen zur Individuation vor allem die Erlösung, die das Konzept ausmacht. Mit dem Individuationsprozess könne der Mensch endlich so handeln, wie er sich fühlt. Damit ist die Individuation für Jung letztlich eine Befreiung von Fremdzwängen. US-Psychiater und Psychotherapeut Erickson verband die Individuation erstmals mit der Hypnosetherapie und nutzte das Unbewusste auf diese Weise als Ressource zur Selbstwerdung.
Funktion & Aufgabe
Die Individuation entspricht einer Bewältigung und Verarbeitung dieses Konflikts. Das Individuum hinterfragt zur Konfliktbewältigung die Normen und Werte der anderen, so zum Beispiel der Eltern und Freunde, und setzt sich gegebenenfalls darüber hinweg. Die Suche nach eigenen Normen oder Werten ist bei diesem Prozess einer der wichtigsten Faktoren. Das Individuum muss lernen, Erwartungen zu enttäuschen oder bestimmte Verbote zu brechen, die ihm nicht entsprechen.
Die Anpassung an andere ist bis zu einem gewissen Maß für die Sozialisation nötig. Ist dieses Grund-Maß jedoch überschritten, so kann sie ungesunde Auswirkungen auf die Entwicklung des Einzelnen zeigen. Mit der Individuation wird der Mensch von den ungesunden Auswirkungen erlöst und organisiert seine Persönlichkeit befreiter. Das Ziel ist eine Verbesserung der inneren Struktur.
Für Freud entspricht die Individuation einem Lebensweg, der immer wieder nach einer aktiven und bewussten Konfliktbewältigung im beschriebenen Sinne verlangt. Probleme tauchen immer wieder neu auf und Entscheidungen muss der Mensch so immer wieder neu vor sich verantworten können. Die Individuation befreit den Menschen bei seinen Entscheidungen von dem, was er laut anderer tun sollte oder was für andere richtig wäre und lässt ihn in sich selbst hineinhorchen, wo er die für sich richtige Entscheidung findet.
Auch Milton H. Erickson verfolgte mit seiner eigens entwickelten Hypnosetherapie die Individuation. Mittlerweile gibt es Fragebögen, die den Entwicklungsstand der Individuation messen, so beispielsweise der PAFS-Q, der auf der persönlichen Autorität im Familiensystem aufbaut. Die Selbstwerdung bezieht sich in diesem Fragebogen auf eine Individuation im innerfamiliären Geschehen mehrerer Generationen.
Auch die Psychoanalytikerin Margaret Mahler hat sich mit der Individuation auseinandergesetzt und beschreibt vor allem die Kindesentwicklung als einen Prozess der Ablösung und Individuation. Für sie ist der Prozess der Individuation eine Folge aus Entwicklungsschritten und hat individuelle Eigenschaften zum Ziel.
Krankheiten & Beschwerden
Der erste dieser Konflikttypen ist der Konflikt Abhängigkeit vs. Individuation, der den Menschen im Extremfall eine Beziehung mit hoher Abhängigkeit suchen und im entgegengesetzten Extremfall stets emotionale Unabhängigkeit bewahren lässt, sodass er seine unterdrückten Bindungswünsche niemals erfüllen kann.
Dass tatsächlich alle psychischen Erkrankungen auf einen der acht Grundkonflikte zurückzuführen sind, ist höchst umstritten. Zumindest aber ist der Mensch ein Gemeinschaftstier, das sich trotzdem selbst erfüllen möchte und in seiner Individualität erleben will. Diese unvereinbar wirkenden Grundbedürfnisse des Menschen bergen mit Sicherheit Potenzial für psychische Konflikte und können damit durchaus Psychosen oder Depressionen begünstigen oder zumindest zu ihrer Entstehung beitragen.
Wer sich beispielsweise überhaupt nicht selbst verwirklicht und ausschließlich in Abhängigkeit von einer Gemeinschaft erlebt, kann für Depressionen anfällig sein. Dasselbe gilt für denjenigen, der für seine Individuation absolute Insolation in Kauf nimmt, um sich selbst zu verwirklichen. Um einen Mittelweg zwischen Selbstständigkeit und Abhängigkeit zu finden, ist im Leben immer wieder eine Bewältigung des Grundkonflikts Individuation vs. Abhängigkeit erforderlich, die sich mit den aktuellen Problemen aus diesem Grundkonflikt beschäftigt.
Quellen
- Becker-Carus, C., Wendt, M.: Allgemeine Psychologie. Springer 2. Auflage, Berlin 2017
- Faller, H.: Kurzlehrbuch Medizinische Psychologie und Soziologie. Springer, Berlin 2019
- Rothgangel, S.: Medizinische Psychologie und Soziologie. Thieme, Stuttgart 2010