Hyperlexie
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 10. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Kinder, die schon weit vor ihren Altersgenossen lesen lernen und eine starke Faszination für Buchstaben und Zahlen zeigen, verdanken ihre außergewöhnlichen Fähigkeiten manchmal einem Syndrom, welches als Hyperlexie bezeichnet wird. Dieses gilt als ein mögliches Anzeichen für Autismus, Asperger oder das Williams-Beuren-Syndrom.
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Was ist Hyperlexie?
Hyperlexie, aus dem Griechischen „hyper“ (über) und „lexis“ (Aussprache, Wort), bezeichnet die auffällig gut ausgeprägte Fähigkeit eines Kindes zu lesen. Damit einher gehen jedoch Schwierigkeiten, die gesprochene Sprache zu verstehen und korrekt anzuwenden sowie Schwierigkeiten mit sozialen Interaktionen.
Das Syndrom wurde erstmals im Jahre 1967 durch Norman und Margaret Silverberg identifiziert, die es als frühreife Lesefähigkeit ohne vorheriges Üben definierten, die typischerweise vor der Vollendung des fünften Lebensjahres auftritt. Sie stellten fest, dass betroffene Kinder eine Begabung in der Dechiffrierung von Wörtern haben, die ihr Leseverständnis bei weitem übersteigt. Viele Experten sind der Meinung, dass Hyperlexie ein Indiz für Autismus ist.
Andere, wie etwa Darold Treffert, unterschieden verschiedene Typen des Syndroms, von denen nur einige mit Autismus und Asperger-Syndrom in Verbindung stehen. Dabei handelt es sich um neurologisch unauffällige Kinder, die sehr frühe Leser sind (Typ 1), Autisten, welche die frühe Lesefähigkeit als besondere Begabung entwickeln (Typ 2) und Kinder, die dem Autismus ähnliche Züge aufweisen, die mit zunehmendem Alter verschwinden (Typ 3).
Ursachen
Zum einen können genetische Faktoren eine Rolle spielen. So konnten bereits über 100 Gene und mehr als 40 Genorte identifiziert werden, die an der Erkrankung beteiligt sind. Die vielen Kombinationsmöglichkeiten genetischer Abweichungen sorgen für die große Vielfalt und Breite des Autismusspektrums.
Symptome, Beschwerden und Anzeichen
2004 entdeckten Forscher in den Gehirnen von Asperger-Patienten Anzeichen für eine veränderte Konnektivität, also den großräumigen Informationsfluss. Gehirnscans zeigten sowohl Bereiche erhöhter, als auch Bereiche verminderter Aktivität, sowie auch eine geringere Synchronisation der Aktivitätsmuster unterschiedlicher Hirnbereiche. Neben einer globalen Unterkonnektivität, also einer verminderten Verknüpfung, trat dabei auch häufig eine lokale Überkonnektivität auf.
Diese wird als Überspezialisierung von bestimmten Gehirnaktivitäten verstanden. Die hierdurch auftretenden Besonderheiten im Verhalten der Patienten, zum Beispiel bei der Erfassung von Zusammenhängen zwischen Gefühlen, Personen und Dingen, sind auch bei hyperlexischen Kindern zu beobachten. Daher kann die Beschäftigung mit den Auslösern von Autismus und Asperger Aufschluss für die Ursachen des Hyperlexie-Syndroms geben.
Diagnose & Krankheitsverlauf
Von Hyperlexie betroffene Kinder verfügen in der Regel über einen durchschnittlichen oder leicht überdurchschnittlichen IQ. Sie haben ein außergewöhnliches Talent dafür, Sprachen zu entziffern und werden daher zu sehr frühen Lesern. Bis zum Alter von 18 bis 24 Monaten entwickeln sie sich in den meisten Fällen normal, erst danach treten die Auffälligkeiten gehäuft auf.
Ist ein Kind in der Lage, lange Wörter vor dem Alter von 2 Jahren zu buchstabieren und ganze Sätze zu lesen, bevor es 3 wird, ist es möglicherweise von dem Syndrom betroffen. Zu den weiteren Talenten zählen eine schnelle Buchstaben- und Silbenzählung sowie das Rückwärtslesen. Gleichzeitig lassen sich bei den Kindern oft auffällige Kommunikationsschwierigkeiten beobachten.
Viele von ihnen erlernen das Sprechen nur durch intensives Wiederholen und haben Schwierigkeiten, die Regeln einer Sprache durch Beispiele oder Ausprobieren zu lernen. Das bringt häufig soziale Probleme mit sich, die auch dadurch entstehen, dass hyperlexische Kinder weniger Interesse am Spielen oder Kommunizieren mit anderen haben. Selten initiieren sie Gespräche, häufig entwickeln sie besondere und ungewöhnliche Ängste.
Die Kinder nutzen Echolalie, also das Nachsprechen von Sätzen und Worten, um ihre Sprache zu entwickeln. Sie verfügen oft über ein großes Vokabular und können viele Objekte benennen, verstehen es aber nicht, ihre Sprachkenntnisse abstrakt anzuwenden. Spontane Ausdrücke fehlen und der pragmatische Sprachgebrauch ist unterentwickelt.
Hyperlexische Kinder haben häufig Probleme, Fragen nach dem Wo, Wie und Warum zu beantworten. Betroffene werden nicht selten von Eltern, Erziehern oder Lehrern kognitiv überfordert, die auch auf anderen Gebieten außer dem Lesen besondere Fähigkeiten und Leistungen von ihnen erwarten. Im Alltag benötigen sie Routinen, da sie Schwierigkeiten bei Veränderungen mit rituellem Verhalten begegnen.
Komplikationen
Weiterhin kann es zum Beispiel zu Kommunikationsschwierigkeiten geben, die vor allem unter Kindern zu Hänseleien oder zu Mobbing führen können. Die meisten Kinder mit Hyperlexie haben auch kein Bedürfnis, mit anderen Kindern zu spielen oder zu sprechen. Nicht selten entwickeln sie Ängste vor der Kommunikation und vor dem Kontakt mit anderen Menschen. Falls diese Ängste nicht schon im Kindesalter behandelt werden, kann es im Erwachsenenalter zu ernsthaften sozialen Problemen kommen.
Die Behandlung selbst führt nicht zu besonderen Komplikationen und wird in der Regel durch verschiedene Therapien durchgeführt. Es kann allerdings nicht vorausgesagt werden, ob die Therapien erfolgreich sein werden und zu einem positiven Krankheitsverlauf führen. Nicht selten leiden auch die Eltern an psychischen Beschwerden aufgrund der Hyperlexie.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Zeigt ein Kind im direkten Vergleich zu anderen Kindern des gleichen Alters Verhaltensauffälligkeiten, sollten diese mit einem Arzt besprochen werden. Ist die Entwicklung des Kindes verändert oder nicht altersgerecht, liegen oftmals behandlungsbedürftige Erkrankungen vor oder das Kind benötigt eine spezielle Förderung der vorhandenen Kompetenzen. Medizinische Tests werden durchgeführt, um mögliche Störungen oder das Entwicklungsniveau diagnostizieren zu können. Fällt es dem Betroffenen schwer, Zusammenhänge zwischen Personen, Dingen und Gefühlen herzustellen, gilt dies als ungewöhnlich. Können Kontexte nicht erfasst werden, sollte ein Arzt aufgesucht werden.
Werden Buchstaben und Wörter bereits sehr früh ohne den Einfluss von Erwachsenen erlernt, ist diese Beobachtung weiter zu verfolgen. Können lange Wörter in bereits sehr jungen Jahren buchstabiert werden, empfiehlt sich die Rücksprache mit einem Arzt. Bestehen Schwierigkeiten in den Bereichen der Kommunikation, den Gefühlen oder bei körperlicher Nähe, sollte die Rücksprache mit einem Arzt erfolgen. Können die Regeln der Sprache trotz viel Übung nicht erfasst werden, ist ein Arztbesuch ratsam. Bei Kindern, die wenig Interesse an sozialen Kontakten oder dem Spielen mit Spielzeug zeigen, sollte sich ein Arzt das Verhalten genauer anschauen. Erkennen Eltern oder Betreuer des Kindes, dass zu erlernende Muster vom Kind nicht angenommen werden, sollte ein Arzt als neutraler Beobachter um Rat gebeten werden.
Behandlung & Therapie
Hyperlexie kann behandelt werden, wenn die Erkrankung früh genug diagnostiziert wird. Hierfür ist eine intensive Sprachtherapie erforderlich, mit der bereits in einer Frühphase der kindlichen Entwicklung begonnen werden sollte. Dadurch kann das Kind bessere Sprachkenntnisse erwerben und leichter soziale Fähigkeiten entwickeln.
Verfügt es bereits über fortgeschrittene Lesefähigkeiten, sollten diese als primärer Ansatz für die Sprachtherapie genutzt werden. Dabei ist es wichtig, dass Experten, Eltern, Erzieher und Lehrer als Team zusammenarbeiten. Die in der Behandlung von Autismus häufig eingesetzte Angewandte Verhaltenstherapie (Applied Behavior Analysis, „ABA“) kann bei dem im Zusammenhang stehenden hyperlexischen Syndrom ebenfalls zu Erfolgen führen.
Es handelt sich um eine ganzheitliche Therapieform, zu der seit den 1980er Jahren auch die Vermittlung sprachlicher Fähigkeiten gehört. Ziel dieser Maßnahmen ist es, soziale und kommunikative Kompetenz aufzubauen. Die bereits vorhandenen Fähigkeiten der Kinder werden als Grundlage genutzt, auf der das Therapieprogramm aufgebaut wird. Die Eltern werden in die Behandlung mit einbezogen, Lernversuche und -erfolge werden möglichst direkt verstärkt.
Aussicht & Prognose
Die Fähigkeit, Buchstaben und Zahlen bereits vor anderen Kindern zu erlernen, wird nicht gestoppt oder behandelt. Sie ist das Ergebnis einer überdurchschnittlichen Intelligenz des Kindes und weist in den meisten Fällen auf eine andere vorliegende Störung hin. Die Hyperlexie stellt aus diesem Grund keine eigenständige Erkrankung dar, die therapiert wird. Sie ist die Folge einer vorliegenden Grunderkrankung, die diagnostiziert und medizinisch versorgt werden muss. In den meisten Fällen liegt eine Störung des Gehirns vor, die trotz der überdurchschnittlichen Fähigkeit im Umgang mit Zahlen und Buchstaben zu einer Verminderung der Möglichkeiten in anderen Lebensbereichen führt. Oftmals ist keine eigenständige Lebensführung des Patienten möglich.
Der Behandlungsbedarf des Patienten ist nicht auf die Hyperlexie ausgerichtet und wird daher auch nicht vorrangig betrachtet. Vielmehr finden Fördermaßnahmen statt, damit die Kompetenzen der Hyperlexie genutzt werden und in diesem Bereich keine Unterforderung des Patienten stattfindet, die wiederum neue Komplikationen auslösen kann.
Die Aussicht auf eine Heilung oder Minimierung der Hyperlexie kann aus den benannten Gründen als konstant eingestuft werden. In einer Sprach- oder Verhaltenstherapie werden vorhandene kognitive Möglichkeiten gefördert und der Umgang mit der Fähigkeit trainiert. Dies führt bei den meisten Patienten zu einer Verbesserung des emotionalen Zustands und damit zu einem besseren Wohlbefinden.
Vorbeugung
Da die Ursachen von Hyperlexie noch weitgehend unerforscht sind, lassen sich keine vorbeugenden Maßnahmen empfehlen. Im Zusammenhang mit Autismus kamen in den vergangenen Jahren immer wieder Theorien auf, welche die Erkrankung als eine mögliche Folge von Impfschäden interpretieren. Diese konnten jedoch bisher nicht belegt und im Fall von Thiomersal enthaltenen Impfstoffen sogar widerlegt werden. Die Verweigerung einer Impfung schützt also höchstwahrscheinlich nicht vor Autismus und Hyperlexie.
Nachsorge
Bei einer Hyperlexie sind die Maßnahmen einer Nachsorge in den meisten Fällen stark eingeschränkt. Hierbei ist der Betroffene in erster Linie auf eine schnelle Diagnose mit der anschließenden Behandlung angewiesen, damit weitere Beschwerden oder Komplikationen verhindert werden können. Auch eine weitere Verschlechterung der Beschwerden wird dadurch verhindert.
Die Krankheit muss dabei nicht wirklich durch einen Arzt behandelt werden, wobei die Kinder jedoch eine starke Unterstützung in ihrem Leben benötigen, damit sie ihre Fähigkeiten richtig ausüben können. Eltern müssen die Hyperlexie dabei schon früh erkennen und von einem Arzt untersuchen lassen. Danach sind die Kinder auf eine spezielle Förderung angewiesen.
Auch eine Verhaltenstherapie kann in einigen Fällen notwendig sein, um die Beschwerden dieser Erkrankung zu lindern. Dabei hilft auch die Pflege und die Unterstützung durch die eigene Familie oder durch Angehörige und Bekannte, um psychische Verstimmungen oder Depressionen zu lindern oder gar zu verhindern. Eltern müssen sich dabei über diese Krankheit richtig und vollständig informieren. Auch der Kontakt zu anderen Betroffenen der Hyperlexie kann dabei sehr sinnvoll sein, da es dabei häufig zu einem Austausch an Informationen kommt.
Das können Sie selbst tun
Eltern von betroffenen Kindern sollten in erster Linie eine Sprachtherapie für ihr Kind organisieren. Wird mit der therapeutischen Behandlung begonnen, können die Sprachkenntnisse gefördert und soziale Einschränkungen reduziert werden. Die Therapie muss von den Eltern zu Hause unterstützt werden, indem mit dem Kind viel gelesen und gerechnet wird. Verfügt das Kind bereits über fortgeschrittene Lesefähigkeiten, kann die Lesefähigkeit gezielt verbessert werden. Das Kind kann möglicherweise früher eingeschult werden und seine geistigen Fähigkeiten vollständig ausschöpfen.
Begleitend dazu ist immer auch eine Verhaltenstherapie angezeigt. Vor allem für Kinder, bei denen die Hyperlexie im Zusammenhang mit Autismus auftritt, ist eine frühzeitige Schulung des Verhaltens wichtig. Die Eltern oder Erziehungsberechtigten sollten sich hierfür schulen lassen und gegebenenfalls auch mit anderen Eltern sprechen. Dadurch kann die optimale Behandlung für das Kind gefunden werden.
Sollte das Kind trotz allem Schwierigkeiten haben, sich zu integrieren, ist unter Umständen eine weitergehende therapeutische Beratung sinnvoll. Womöglich muss das Kind eine Förderschule besuchen oder Medikamente einnehmen, um die Begleitsymptome der zugrunde liegenden Autismus-Erkrankung zu lindern. Welche Maßnahmen im Detail zu ergreifen sind, kann der Kinderarzt oder ein Kinderpsychologe entscheiden.
Quellen
- Aarons, M, Gittens, T.: Das Handbuch des Autismus. Beltz Verlag, Weinheim 2013
- Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2016
- Witkowski R., Prokop O., Ullrich E.: Lexikon der Syndrome und Fehlbildungen. Springer, Berlin 2003