Neglect

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 4. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Neglect ist eine neurologische Aufmerksamkeitsstörung, bei der die betroffenen Personen eine Raum- beziehungsweise eine Körperhälfte und/oder Objekthälften vernachlässigen. Es handelt sich um eine egozentrische beziehungsweise allozentrische Störung.

Inhaltsverzeichnis

Was ist ein Neglect?

Der Patient rasiert oder wäscht nur eine Körperhälfte. Er reagiert nicht, wenn er von der geschädigten Seite aus angesprochen wird, weil er nichts hört oder sieht.
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Ein Neglect stellt sich häufig nach Blutungen der Arteria cerebri media (Gehirnschlagader) und rechtshemisphärischen Hirninfarkten ein. Diese neurologische Störung ist auf eine Läsion im Parietallappen der Cortex (Hirnrinde) zurückzuführen. Die Diagnose ist oft schwierig, da die Symptomatik vielfältig ist. Neglect kann alle Sinnesmodalitäten betreffen, wobei sich die Patienten in den meisten Fällen ihrer Defizite nicht bewusst sind und ihre Verhaltensauffälligkeiten als normal einordnen. Es liegt demzufolge keine Krankheitseinsicht (Anosognosie) vor.

Ursachen

Ein Neglect entsteht mit einer Schädigung bestimmter Hirnregionen, dem Scheitellappen beziehungsweise dem Parietallappen. Dieser Hirnbereich ist verantwortlich für die Steuerung der Aufmerksamkeit. Mögliche Schädigungen sind Hirntumore, Schlaganfall, Hirnblutungen, Schädel-Hirntrauma, Meningitis, Enzephalitis, Multiple Sklerose, Muskelerkrankungen sowie Erkrankungen des peripheren Nervensystems und neurodegenerative Erkrankungen.

Die meisten Patienten mit Neglect-Syndrom sind von einem rechtsseitigen Schlaganfall mit Schädigung der rechten Gehirnhälfte betroffen. Sie vernachlässigen die entgegengesetzte, linke Körper- oder Raumhälfte. Der linkshemisphärische Hirninfarkt ist weniger stark ausgeprägt und tritt seltener auf.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Der Patient rasiert oder wäscht nur eine Körperhälfte. Er reagiert nicht, wenn er von der geschädigten Seite aus angesprochen wird, weil er nichts hört oder sieht. Er stößt oder läuft gegen Hindernisse, die sich auf der vernachlässigten Seite befinden. Beim Essen berücksichtigt er nur die Lebensmittel auf der einen Tellerseite, die andere wird ignoriert. Soll er ein Bild abzeichnen, fließen nur die Teile der wahrgenommenen Seite ein. Die Betroffenen verhalten sich für Außenstehende deshalb so seltsam, weil sie ihre Defizite häufig nicht wahrnehmen.

Für sie ist ihr Verhalten normal, ihnen fehlt die Einsichtsfähigkeit in ihre Krankheit und sie reagieren umso heftiger, wenn ihr soziales Umfeld sie auf ihre Verhaltensauffälligkeiten aufmerksam macht. Sie wirken uneinsichtig, trotzig, ignorant, gleichgültig, unfreundlich und stur. Die klinische Neuropsychologie setzt sich zum Ziel, diese Defizite mit verschiedenen Therapieansätzen zu reduzieren oder zu beseitigen. Voraussetzung für einen Behandlungserfolg ist jedoch die Einsichtsfähigkeit der Patienten. Solange sich diese nicht einstellt, sind die betroffenen Personen nur in sehr geringem Maße motiviert, sich einer Therapie zu unterziehen und der Umgang mit ihnen bleibt schwierig.

  • Die visuelle Aufmerksamkeitsstörung tritt am häufigsten in Erscheinung. Die Patienten nehmen Gegenstände, Personen und Räumlichkeiten auf der vernachlässigten Seite nicht oder verspätet wahr. Ihr Orientierungssinn konzentriert sich überwiegend auf die nicht vernachlässigte Hälfte.
  • Mit dem auditorischen Neglect ist das Hörvermögen beeinträchtigt und Geräusche, Gespräche, Musik und Sprache werden nicht oder nur eingeschränkt wahrgenommen. Werden die betroffenen Personen auf der vernachlässigten Seite angesprochen, reagieren sie nicht oder verzögert.
  • Mit dem personellen Neglect blenden die Patienten eine Körperhälfte aus und nehmen eingehende Reize wie Berührungen, Druckschmerz, Verletzungsschmerz oder Temperaturreize nicht wahr. Alternativ ordnen sie diese Reize der nicht vernachlässigten Körperhälfte zu.
  • Mit dem olfaktorischen Neglect werden Gerüche nicht wahrgenommen.
  • Der motorische Neglect führt zu einer verminderten Verwendung der Extremitäten (Hemiakinese).
  • Der repräsentationale Neglect zieht eine Vernachlässigung von Reizen in der bildlichen Wahrnehmung nach sich. Die Patienten nehmen Gegenstände, Räumlichkeiten, Personen und Hindernisse nur auf der nicht vernachlässigten Seite wahr und lassen die betroffene Seite bei der Bildbeschreibung außen vor.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Es handelt sich um eine erworbene Wahrnehmungsstörung in Folge eines Schlaganfalles oder weiterer Formen der Hirnschädigung. Der Störungsprozess verläuft grundsätzlich seitenverkehrt, da ausschließlich die Seite vernachlässigt wird, die entgegengesetzt zur Hirnschädigung liegt. Liegt eine rechthemisphärische Gehirnstörung vor, werden Reize der linken Raum- oder Körperhälfte nicht wahrgenommen und umgekehrt.

Die Bezeichnungen Hemineglect, halbseitige Aufmerksamkeitsstörung und halbseitige Vernachlässigung werden gleichfalls verwendet. Ein Neclect kann mehrere Sinneskanäle gleichzeitig betreffen und visuelle, akustische, sensorische oder motorische Störungen hervorrufen. Mit diesen Beschwerden funktioniert nur noch eine Seite, während die andere Seite komplett ausgebendet wird. Die Diagnose erfolgt primär über die Verhaltensauffälligkeiten, über bildgebende Verfahren, Gewebeentnahmen und Muskelbiopsien.

Auch einfache Tests bestätigen schnell den Anfangsverdacht. Die Neurologen führen Such- und Durchstreichtests, Lese-, Schreib- und Rechentests sowie Zeichenübungen (visuelles Explorationstraining) mit den Patienten durch. In der Therapie werden Alltagssituationen unter Berücksichtig der vernachlässigten Seite trainiert. Mit der optokinetischen Simulationstherapie müssen Patienten Symbolen, die sich zur vernachlässigten Seite hin bewegen folgen.

Komplikationen

Ein Neglect stellt bereits eine Komplikation dar, die sich häufig nach einem Schlaganfall entwickelt. Bei bestehendem Neglect ergeben sich allerdings weitere Komplikationen nur noch durch die typischen Verhaltensweisen der Betroffenen. Um das zu verhindern, wäre eine intensive Therapie notwendig. Dem Patienten selbst ist die Störung aber gar nicht bewusst.

Daher leidet er zunächst nicht unter den direkten Auswirkungen dieses Zustands und lässt eine Therapie oft nicht zu. Auf dieser Grundlage können sich verschiedene Komplikationen ergeben. Da der Patient alle Objekte ignoriert, die aufgrund der beschädigten Hirnhälfte abgebildet werden, kann es unter anderem zu Unfällen und Verletzungen beim Zusammenstoß mit diesen Gegenständen kommen.

Ohne pflegerische Unterstützung ist der Betroffene des Weiteren oft nicht mehr in der Lage, sich selbst ausreichend zu ernähren oder die einfachsten Tätigkeiten bei der Körperpflege durchzuführen. In schweren Fällen kann es dadurch ohne Hilfe zur Unterernährung und zur gesellschaftlichen Isolation mit der Tendenz zur Verwahrlosung kommen.

Allerdings verschwindet der Neglect in circa 65 Prozent aller Fälle innerhalb von 15 Monaten wieder, ohne dass trotz fehlender Therapie besondere Komplikationen auftreten. Bei circa 35 Prozent der Betroffenen bleiben jedoch deutliche Symptome zurück, die dann nur noch einer symptomatischen Therapie zugänglich sind. Voraussetzung für eine Therapie ist allerdings die Einsicht in die Erkrankung. Eine vollständige Heilung ist dann aber nicht mehr möglich.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Verhaltensauffälligkeiten oder ein Auftreten, das gesellschaftlich als ab der Norm wahrgenommen wird, sollte mit einem Arzt besprochen werden. Kommt es zu einer besonderen Einstellung des Betroffenen seinem eigenen Körper gegenüber, benötigt er meist Hilfe und Unterstützung. Eine Aufmerksamkeitsstörung, eine Körperschemastörung sowie zwanghafte Verhaltenszüge sollten mit einem Arzt besprochen werden.

Da es dem Betroffenen bei der Neglect an einer Krankheitseinsicht mangelt, ist es sehr unwahrscheinlich, dass eine Notwendigkeit für eine ärztliche Abklärung der Symptome vorhanden ist. Aus einem eigenen Antrieb findet daher oftmals kein Arztbesuch statt. Daher sind die nahen Angehörigen, Vertraute und Freunde in einer erhöhten Sorgfaltspflicht. Bemerken sie Unregelmäßigkeiten, sollten sie das Vertrauen des Betroffenen gewinnen und gemeinsam mit einem Arzt ein weiteres Vorgehen besprechen. Damit sie mit ihrem Vorhaben nicht scheitern, ist eine vorherige ausreichende Information über das Krankheitsbild notwendig. Für eine umfassende Aufklärung ist ein Arztbesuch anzuraten.

Wäscht oder beachtet der Betroffene eine Körperhälfte auffallend mehr als die andere, ist dies ein Anzeichen einer Unstimmigkeit. Werden grundsätzlich im Alltag in verschiedenen Situationen Besonderheiten einer Wahrnehmungsverschiebung von den anwesenden Personen registriert, sollte das Gespräch mit dem Betroffenen gesucht werden. Werden Gerüche, Töne oder Reize nicht wahrgenommen, besteht Anlass zur Besorgnis.

Behandlung & Therapie

Angehörige können einige Maßnahmen ergreifen, um ihnen den Alltag zu erleichtern. Gläser, Tassen und Teller werden leicht schräg zur vernachlässigten Seite auf den Tisch gestellt. Alle Aktivitäten werden über die eingeschränkte Seite an den Betroffenen herangetragen, um das Bewusstsein für diese Seite zu trainieren. Das Bett ist so aufgestellt, dass der Patient mit der gesunden Seite zur Wand liegt. Ein bewusster und geduldiger Umgang ist unverzichtbar, da die Aufmerksamkeits- und Konzentrationsfähigkeit eingeschränkt ist.

Alltagssituationen, Gespräche und Besuche sind anstrengend. Daher sind wiederholte Pausen indiziert. Übermäßige Kritik und Ungeduld sind kontraproduktiv und verstärken die Blockadehaltung. Ein kleines Gerät in der Größe einer Zigarettenschachtel dient als Signalgeber. In regelmäßigen Abständen ertönt ein Zeichen und der Betroffene muss das Gerät mit der vernachlässigten Seite ausschalten.

Ein Vibrator kann die Muskulatur stimulieren und die Empfindungsfähigkeit erhöhen. Verschiedene Übungen trainieren Augen- und Kopfbewegungen. Hinweisreize erleichtern die Wahrnehmung, zum Beispiel farbige Markierungen an Gegenständen, Lichtsignale oder akustische Reize. Liegt die Einsichtsfähigkeit in die Krankheit vor, kann sich der Betroffene durch die Selbstfunktionstechnik motivieren, seine vernachlässigte Seite bewusst wahrzunehmen.


Aussicht & Prognose

Ist ein Schlaganfall Ursache für einen Neglect, müssen Patienten sofort den Notarzt aufsuchen. Tritt der Neglect alleine auf, haben Betroffene ohne Behandlung häufig kein Krankheitsbewusstsein. Dies zeigt sich darin, dass Patienten die der Hirnläsion gegenüberliegende Seite der Umgebung und des Körpers nicht wahrnehmen oder missachten.

Die Prognose verschlechtert sich, weil folgende Sinne beeinträchtigt bleiben: visuell, auditiv, taktil und olfaktorisch. Die Folge ist eine reduzierte Aufmerksamkeit gegenüber den Reizen der äußeren Welt. Soziale Teilhabe ist erschwert, weil Gesprächspartner nicht richtig angeschaut oder gar nicht erst aufgesucht werden. Durch die reduzierte Wahrnehmung der Motorik, finden Bewegungen der Extremitäten weniger statt, was einen Abbau von Muskulatur und allgemeiner Fertigkeiten zur Folge hat. Patienten haben Schwierigkeiten beim Lesen, bei der Körperpflege, bei der Ernährung und der Ausübung von sportlichen Aktivitäten – alles Bereiche des alltäglichen Lebens, die einen massiven Einschnitt in die Selbstständigkeit bedeuten.

Die Aussicht auf Verbesserungen erhöht sich durch eine neuropsychologische Therapie, da sie hilft ein Krankheitsbewusstsein zu entwickeln. Selbst mit Behandlung bleibt die Aussicht, dass Patienten in ihrem Alltag weiter Hilfen benötigen, bestehen. Dies betrifft vor allem das Thema Mobilität und Erfordert von der Umwelt eine erhöhte Aufmerksamkeit.

Vorbeugung

Eine Vorbeugung im klinischen Sinne gibt es nicht, da Schlaganfälle, Hirnblutungen, Hirntumore und andere neurologische Störungen unerwartet auftreten und jeden Menschen unabhängig vom Alter und seinen Lebensumständen treffen können. Einzig ein gesunder Lebensstil kann vorbeugen.

Nachsorge

In der Regel verschwindet ein Neglect ohne Behandlung innerhalb einiger Monate von selbst. Nachsorgeuntersuchungen sind daher nicht zwingend notwendig. In vielen Fällen sind sie dennoch anzuraten, da die Heilung durch verschiedene medizinische Maßnahmen unterstützt werden kann. Es empfiehlt sich, regelmäßig einen Neurologen oder zumindest den Hausarzt aufzusuchen.

Dies ist insbesondere dann notwendig, wenn der Neglect durch einen Schlaganfall ausgelöst wurde. Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl von optionalen Nachsorgemaßnahmen, die eine Heilung beschleunigen können. So werden beim Neglect oftmals eine Vibrationstherapie der Nackenmuskulatur, optokinetische Stimulation oder visuelles Explorationstraining angewendet.

Zudem können die Auswirkungen des Neglects durch das Tragen einer sogenannten Prismenbrille verbessert werden. Die konkreten Therapiemaßnahmen zur Nachsorge hängen jedoch von der Art und Ausprägung der Erkrankung ab. Daneben gibt es eine Reihe von Maßnahmen, die der Betroffene in seinen Alltag integrieren kann.

So empfiehlt es sich etwa bei Aktivitäten wie Essen, Trinken, Kämmen und Anziehen die vernachlässigte Seite bewusst einzubeziehen. Zudem können Kopf- und Augenbewegungen gezielt trainiert werden. Darüber hinaus müssen Menschen mit einem Neglect im Straßenverkehr einige Monate lang besonders Acht geben. Zunächst sollte auf das Fahren verzichtet werden. Als Fußgänger ist ebenfalls Vorsicht geboten. Im Idealfall sollten die Patienten von Angehörigen begleitet werden.

Das können Sie selbst tun

Um den Neglect schrittweise abzubauen ist es wichtig, sich die vernachlässigte Körperhälfte oder Raumseite wieder bewusster zu machen. Wenn möglich, hilft es, das Bett so zu positionieren, dass die betroffene Seite dem Raum zugewandt ist. Dadurch kommen vermehrt Reize von der vernachlässigten Seite. Da der Neglect naturgemäß vom Patienten selbst nicht bemerkt wird, muss er immer wieder von seinem Umfeld darauf aufmerksam gemacht werden. Mit der Zeit lernt er, dass er Gegenstände und Geräuschquellen zu beiden Seiten suchen muss. Wird eine Körperseite nicht, oder ungenügend wahrgenommen, kann es helfen dieser Seite gezielt Aufmerksamkeit zu widmen. Hierbei wird der betroffende Arm und das betroffene Bein fest eingecremt, oder zum Herzen hin mit einer Massagebürste massiert.

Die unbeachtete Seite soll so oft wie möglich in Alltagstätigkeiten eingebunden werden, damit sie im Gehirn wieder als zugehöriger Körperbereich registriert wird. Beim Essen sollen immer beide Hände am Tisch liegen, auch wenn nur die gesunde Hand etwas tut. Der Betroffene soll seinen beeinträchtigten Arm selbst mit dem Gesunden am Körper halten. Dadurch schützt er ihn beim Umsetzen oder Hinlegen aktiv vor Einklemmung oder Verdrehung.

Quellen

  • Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
  • Grehl, H., Reinhardt, F.: Checkliste Neurologie. Thieme, Stuttgart 2012
  • Mattle, H., Mumenthaler, M.: Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013

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