Orthorexia nervosa

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 14. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Nicht jede Beschäftigung mit gesundem Essen ist sofort als Essstörung zu bewerten. Bei der als Orthorexia nervosa bezeichneten Erkrankung leiden die Betroffenen unter einer übertriebenen Obsession nach gesundem Essen und missionieren zudem ihr Umfeld. Bei offensichtlichem Untergewicht sollten Familienangehörige an diese Erkrankung denken und den Betroffenen ermutigen, Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

Inhaltsverzeichnis

Was ist Orthorexia nervosa?

Orthorexia nervosa kann eine einseitige Ernährung begünstigen. Mögliche körperliche Komplikationen, die daraus entstehen können, sind Untergewicht und Mangelerscheinungen wie Eisen- oder Vitamin-B-12-Mangel.
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Orthorexia nervosa ist eine Essstörung, die 1997 von Dr. Steve Bratman erstmals beschrieben wurde. Die Betroffenen streben nach möglichst gesundem Essen und verbieten sich im Laufe der Erkrankung immer mehr Lebensmittel, die sie als ungesund einstufen.

Es kommt dabei weniger auf die Essensmenge als vielmehr auf deren Zusammensetzung an. Patienten mit Orthorexia nervosa können jedoch trotzdem Mangelzustände erleiden, weil sie auf immer mehr Lebensmittel verzichten, sodass es in der Folge auch zu lebensbedrohlichem Gewichtsverlust, ähnlich wie bei der Anorexie, kommen kann. Die Patienten fühlen sich allen Personen, die ein normales Essverhalten zeigen, überlegen und verbringen immer mehr Zeit mit der Auswahl und der Zubereitung sowie der Einnahme ihrer Mahlzeiten.

Manchmal beschäftigen sie sich mehrere Stunden am Tag mit dem Thema Essen, sodass sie auch ihr soziales Umfeld vernachlässigen. Bei der Zusammensetzung ihrer Mahlzeiten setzen sie sich dabei zunehmend engere Grenzen.

Ursachen

Menschen mit Orthorexia nervosa sind besessen von dem Gedanken an Nahrungsmittel und deren Kategorisierung in gesund und ungesund. Häufig beginnt die Störung schleichend als Prozess, um eine andere Erkrankung zu kurieren oder das allgemeine Befinden zu verbessern.

Berichte aus den Medien über Massentierhaltung, verschiedene Lebensmittelskandale und der diskutierte Einsatz von Gentechnik zur Herstellung von Lebensmitteln können zum Auslöser dieser Erkrankung werden.

Bei der Orthorexia nervosa geht das Gesundheitsbewusstsein jedoch weit über das Normalmaß hinaus, bestimmte Lebensmittel eine Zeit lang zu meiden.

Typische Symptome & Anzeichen

Diagnose & Verlauf

Die Diagnose der Orthorexia nervosa stellt ein Arzt oder ein Psychologe nach einem ausführlichen Gespräch mit dem Patienten. Möglicherweise fallen dabei bereits Mangelerscheinungen auf. Da sich die Betroffenen jedoch für besonders gesund halten, besteht meist keine Einsicht erkrankt zu sein.

Es kann im Verlauf zu Konzentrationsstörungen, Antriebslosigkeit und Untergewicht kommen. Auffällig ist zudem, dass Betroffene versuchen, ihr soziales Umfeld zu missionieren und zu einem gesünderen Essverhalten zu animieren. Oft bringen Betroffene von Orthorexia nervosa zu Feierlichkeiten unter bestimmten Vorwänden ihr eigenes Essen mit, da sie nicht mehr in der Lage sind, an einem gemeinsamen Essen teilzunehmen.

Komplikationen

Orthorexia nervosa kann eine einseitige Ernährung begünstigen. Mögliche körperliche Komplikationen, die daraus entstehen können, sind Untergewicht und Mangelerscheinungen wie Eisen- oder Vitamin-B-12-Mangel. Obwohl Orthorexia nervosa keine abgrenzbare und diagnostizierbare Essstörung darstellt, kann sie mit anderen Essstörungen einhergehen.

Zum Beispiel ist es möglich, dass eine magersüchtige Person nicht nur die Kalorienmenge einschränkt, die sie zu sich nimmt, sondern auch alle ungesunden Lebensmittel aus ihrer Ernährung verbannt. Orthorektiker betrachten ihren Zustand oft nicht als Krankheit, sondern als freie Entscheidung. In dieser Hinsicht gleichen sie vielen Magersüchtigen.

Wie bei Magersüchtigen, so ist auch bei Orthorektikern die Behandlung zu Beginn oft sehr schwierig, wenn das Krankheitsbewusstsein fehlt. Verschiedene psychische Erkrankungen und Syndrome können als Komplikation von Orthorexia nervosa entstehen oder mit ihr einhergehen. Zu den häufigsten gehören depressive Störungen.

Orthorexia nervosa kann jedoch auch ohne körperliche und psychische Komplikationen verlaufen. Die Unterschiede zwischen einzelnen Betroffenen und ihren Essgewohnheiten sind zu groß, um eine allgemeine Aussage zu treffen. Die häufigste Komplikation ist die soziale Isolation, die sich absichtlich oder unabsichtlich entwickeln kann. Orthorektiker ziehen sich oft von anderen Menschen zurück, da sie sich missverstanden fühlen oder aufgrund ihrer Essgewohnheiten auf Spott stoßen.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Der Zeitpunkt für den Arztbesuch ist wie bei allen anderen Essstörungen dann gekommen, wenn das Essverhalten beginnt, dem Körper zu schaden. Bei Orthorexia nervosa kann das genauso schnell passieren wie bei jeder anderen Essstörung, selbst wenn Betroffene paradoxerweise versuchen, genau das zu verhindern. Die meisten Betroffenen werden bei Orthorexia nervosa nicht zu Beginn den Arzt aufsuchen, denn sie sehen selbst noch nicht ein, dass ihr Essverhalten alles andere als gesund ist. Häufig kommt es erst zu Mangelerscheinungen und körperlichen Symptomen durch die Ernährung, denkbar sind auch psychische Auswirkungen.

Sind die Betroffenen noch minderjährig, müssen die Erziehungsberechtigten den Arzt konsultieren, sobald sie das Gefühl bekommen, dass das Bestreben nach (vermeintlich) gesunder Ernährung zwanghafte Züge annimmt und dem Betroffenen schadet. Es genügt bereits, sich bei Orthorexia nervosa an den Hausarzt zu wenden, dieser wird an einen Facharzt weiter verweisen. Letztlich kann nur ein Psychologe Orthorexia nervosa langfristig behandeln.

Sollte sich ein Betroffener in eine akute Gefahrensituation bringen, also etwa die Nahrungsaufnahme vollständig oder so weit verweigern, dass dadurch die Gesundheit ernstlich bedroht ist, besteht auch die Möglichkeit einer Zwangseinweisung. Dadurch bekäme der Betroffene zwar schnelle Hilfe, allerdings kommt es bei Orthorexia nervosa selten zu solchen extremen Zuständen. Eher erkennt der Betroffene irgendwann selbst, dass seine Ernährung nicht zur Gesundheit beiträgt, und konsultiert den Arzt zunächst, um zu erfahren, warum sich seine Erwartungen nicht mit seinem gesundheitlichen Zustand decken.

Behandlung & Therapie

Die Behandlung der Orthorexia nervosa ist die einer Essstörung und erfolgt ambulant oder in schweren Fällen stationär. Wenn das Untergewicht lebensbedrohlich ist, muss gegebenenfalls eine Magensonde gelegt werden, um die Ernährung zu sichern.

Sobald sich der Betroffene stabilisiert hat, sollte sich eine psychologische Betreuung anschließen. Der Patient wird ermutigt, zunächst zu einer Krankheitseinsicht zu finden und anschließend ein normales Essverhalten zu erlernen. Es geht vor allem darum, dass die Betroffenen die Mahlzeiten wieder entspannt erleben und dabei auch genießen können. Auch das Denken an Nährwerttabellen und die Gesundheitsaspekte der einzelnen Nahrungsmittel müssen sich beim Patienten so verändern, dass er sich auch ehemals verbotene Nahrungsmittel gönnt, weil sie ihm schmecken.

Hier ist eine stationäre Therapie möglich. Es gibt jedoch auch ambulante Möglichkeiten. Eine psychologische Betreuung oder eine Psychotherapie kann dabei den Behandlungserfolg festigen und alte Denkmuster wirkungsvoll verändern. Grundsätzlich muss der Patient bei der Orthorexia nervosa unbedingt an seiner Genesung mitwirken, da ansonsten alle Maßnahmen zur Gewichtszunahme verpuffen und er sofort nach der Entlassung aus der Therapie zu den gewohnten Denkmustern zurückkehren wird.


Aussicht & Prognose

Eine Prognose bei der Orthorexia nervosa genannten Erkrankung ist nicht leicht zu stellen. Die Betroffenen ernähren sich ausgesprochenen gesund. Der Gesundheitswert der gegessenen Lebensmittel wird aber durch eine fanatische Haltung und ungesunden Verhaltensweisen gegenüber Nahrungsmitteln belegt. Alles, was aufgrund der Zutaten oder anderer Kriterien als nicht gesund angesehen wird, wird als Lebensmittel nicht konsumiert.

Die enge Auswahl der für gesund gehaltenen Lebensmittel kann zu Leidensdruck führen. Sie kann die Betroffenen seelisch belasten. Oft führt die Orthorexia nervosa zur stundenlangen Beschäftigung mit gesunden Lebensmitteln. Insofern sind sich die Mediziner nicht einig, ob die Orthorexia nervosa mit Essstörungen wie Magersucht und Bulimie auf eine Stufe gestellt werden kann. Fakt ist, dass die Orthorexia nervosa oft keine gesundheitlichen Schäden auf der körperlichen Ebene verursacht. Die selbst auferlegten Nahrungstabus und -regeln können die Nahrungsauswahl aber stark einschränken.

Wenn es aufgrund einer Orthorexia nervosa zur Pathologisierung der Nahrungsmittelauswahl kommt, liegt zumindest eine psychische Störung vor. Schwierig ist, den Betroffenen den Krankheitswert ihres Verhaltens zu vermitteln. Die Prognose ist an sich positiv, wenn eine Psychotherapie die Ursachen der Essstörung aufdecken und beheben kann. Die Fixierung auf gesunde Lebensmittel wird jedoch unter Fachleuten kontrovers diskutiert. Ausschlaggebend für die Anerkennung als Krankheit ist für die Orthorexie der Leidensdruck.

Vorbeugung

Maßnahmen zur Vorbeugung der Orthorexia nervosa gibt es nur bedingt. Sobald die Beschäftigung mit der Ernährung ein normales Maß überschreitet und sich beispielsweise auf die Ausübung der täglichen Pflichten auswirkt oder zur dauerhaften Vernachlässigung der sozialen Kontakte führt, sollte das persönliche Essverhalten selbstkritisch beurteilt werden. Je früher einer Orthorexia nervosa entgegengewirkt wird, desto einfacher lässt sie sich letztlich langfristig behandeln.

Nachsorge

Bei der Orthorexia nervosa erweisen sich die Maßnahmen und die Möglichkeiten einer Nachsorge in den meisten Fällen als relativ schwierig oder stehen dem Patienten gar nicht erst zur Verfügung. Der Betroffene sollte bei dieser Krankheit in erster Linie schon sehr früh einen Arzt aufsuchen, damit es nicht zu anderen Komplikationen oder Beschwerden kommt, welche sich negativ auf die Lebensqualität und auch auf den Alltag des Betroffenen auswirken können.

Eine Selbstheilung kann dabei in der Regel nicht eintreten, sodass schon bei den ersten Anzeichen ein Arzt aufgesucht werden sollte. Häufig müssen auch Angehörige oder Freunde den Betroffenen auf die Symptome der Orthorexia nervosa hinweisen, wobei in einigen Fällen auch eine Behandlung in einer geschlossenen Klinik notwendig sein kann.

Die meisten Betroffenen sind während der Behandlung auf die Hilfe und auch auf die Unterstützung der eigenen Familie angewiesen. Dabei ist auch eine psychologische Unterstützung sehr wichtig, wodurch Depressionen und andere psychische Verstimmungen verhindert werden können.

Dabei ist eine strenge Kontrolle der Nahrung sehr wichtig, damit es nicht zu einem möglichen Rückfall kommt. Der weitere Verlauf der Orthorexia nervosa ist dabei sehr stark von der Ausprägung der Erkrankung abhängig, sodass eine allgemeine Voraussage dabei nicht erfolgen kann.

Das können Sie selbst tun

Nach der eigentlichen Behandlung der Orthorexia nervosa ist die Nachsorge sehr wichtig, damit Folgeerkrankungen vermieden werden können und um Rückfällen vorzubeugen. Liegt nach der akuten Behandlung noch medizinisches Untergewicht vor, sollte dieses während der Nachsorge auf jeden Fall behandelt werden. Ein gesundes Körpergewicht ist wichtig, damit viele Körperfunktionen, wie Körpertemperatur und Immunsystem wieder einwandfrei funktionieren.

Eine psychotherapeutische Therapie ist in den meisten Fällen während der Nachsorge einer Orthorexie sehr hilfreich. Ein guter Kontakt zum Therapeuten kann einen Rückfall in die Orthorexie verhindern. Ein wichtiger Punkt für die Nachsorge ist auf jeden Fall die vorherige Behandlung der zugrunde liegenden Ursache. Wird die Ursache vorher nicht behandelt, ist keine erfolgreiche Nachsorge möglich. Durch die Orthorexia nervosa kann zu langfristigen Mangelerscheinungen kommen. Bei der Nachsorge ist es wichtig, diese Mangelerscheinungen auch nach der Behandlung auszugleichen. Geschieht dies nicht, können die Folgen von Mangelerscheinungen wie Osteoporose, Haarausfall etc. auftreten.

Für manche Betroffenen ist auch nach der Behandlung ein normaler Umgang mit Lebensmitteln, die sie während der Erkrankung gemieden haben, schwierig. Hier kann für die Nachsorge ein Austausch mit ehemaligen Betroffenen sinnvoll sein. Je nach Alltagssituation des Betroffenen ist eine stressarme Lebensweise zu empfehlen, damit genug Zeit für die Selbstfürsorge bleibt. Diese ist gerade in der ersten Zeit sehr wichtig. Dafür kann es hilfreich sein eventuell das Arbeitspensum zu reduzieren, stressige Kontakte zu meiden oder Regelungen für eventuell therapeutisch bedingte Fehlzeiten zu treffen.

Quellen

  • Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
  • Lieb, K., Frauenknecht, S., Brunnhuber, S.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer, München 2015
  • Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015

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