Somatic Experiencing

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer. nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 29. März 2025
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Somatic Experiencing (SE) ist ein körperorientiertes Verfahren zur Behandlung von Traumafolgestörungen. Ziel der Methode ist es, physiologische Reaktionen auf überwältigende Ereignisse abzubauen und das Nervensystem wieder in ein Gleichgewicht zu bringen. Entwickelt wurde SE vom Psychologen und Biophysiker Dr. Peter Levine, inspiriert durch Verhaltensbeobachtungen von Wildtieren, die trotz wiederkehrender Bedrohungssituationen keine chronischen Traumata entwickeln.

Inhaltsverzeichnis

Was ist die Somatic Experiencing?

Somatic Experiencing ist ein körperorientierter Ansatz zur Traumabewältigung, der darauf abzielt, durch achtsames Spüren und das Lösen von im Nervensystem gebundener Spannung die natürliche Selbstregulation des Körpers wiederherzustellen.

Somatic Experiencing basiert auf der Annahme, dass Traumata nicht primär durch das Ereignis selbst entstehen, sondern durch die im Nervensystem gebundene, unvollständig verarbeitete Überlebensenergie. In gefährlichen Situationen aktiviert der Körper automatisch eine biologische Stressreaktion – bestehend aus Kampf, Flucht oder Erstarrung (Freeze). Tiere entladen diese Reaktion durch Zittern oder Bewegung, sobald die Bedrohung vorüber ist. Menschen hingegen neigen dazu, diese Impulse zu unterdrücken, was zur chronischen Aktivierung des Nervensystems und in der Folge zu körperlichen und psychischen Symptomen führen kann.

Somatic Experiencing setzt genau hier an: Durch eine achtsame und schrittweise Rückkehr in die körperliche Selbstwahrnehmung soll das Nervensystem seine natürliche Regulation zurückerlangen. Ziel ist es, die gebundene Überlebensenergie im Körper allmählich zu entladen und somit das Trauma aufzulösen.

Geschichte & Entwicklung

Die Methode Somatic Experiencing (SE) wurde in den 1970er Jahren von dem US-amerikanischen Psychologen und Biophysiker Dr. Peter A. Levine entwickelt. Den Ausgangspunkt bildeten seine Beobachtungen in der Tierwelt: Wildtiere geraten regelmäßig in lebensbedrohliche Situationen, zeigen jedoch keine langfristigen Traumafolgen. Levine stellte die Hypothese auf, dass Tiere über einen natürlichen Mechanismus verfügen, um Stress abzubauen – etwa durch Zittern oder spontane Bewegungen nach einer Bedrohung. Er übertrug dieses Verständnis auf den Menschen und entwickelte daraus ein körperorientiertes Modell zur Traumabewältigung.

In den 1980er und 1990er Jahren vertiefte Levine seine Theorie durch interdisziplinäre Studien in den Bereichen Neurobiologie, Verhaltensforschung, Psychotraumatologie und Körpertherapie. Mit der Veröffentlichung seines Buchs „Waking the Tiger“ im Jahr 1997 wurde SE erstmals einem breiteren Publikum vorgestellt. In den folgenden Jahren fand die Methode zunehmend Anwendung in therapeutischen und klinischen Kontexten, insbesondere bei der Behandlung von Schocktraumata, Unfällen, posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) und psychosomatischen Beschwerden.

Mittlerweile wird SE international praktiziert und in zahlreichen Ländern durch zertifizierte Ausbildungsprogramme vermittelt. Die Methode wird auch zunehmend in wissenschaftlichen Studien untersucht, insbesondere in Bezug auf ihre Wirkung auf das autonome Nervensystem und die körperliche Selbstregulation.

Einsatz & Indikation

Somatic Experiencing (SE) wird insbesondere dann eingesetzt, wenn der Körper nach einem überwältigenden Erlebnis weiterhin Anzeichen von Stress, Anspannung oder Dysregulation zeigt. Dies kann nach akuten Schocktraumata wie Unfällen, Operationen, Gewalterfahrungen oder Naturkatastrophen der Fall sein, aber auch bei chronischen Belastungen wie Vernachlässigung, emotionalem Missbrauch oder anhaltendem Stress in der Kindheit.

SE ist dann notwendig, wenn Betroffene Symptome entwickeln, die auf eine gestörte Regulation des Nervensystems hinweisen – darunter chronische Angstzustände, Schlafstörungen, Panikattacken, psychosomatische Beschwerden, Reizdarmsyndrom, Erschöpfung oder diffuse Schmerzen ohne organische Ursache.

Auch bei Menschen, die das Gefühl haben, in bestimmten Situationen „wie eingefroren“ oder „nicht im eigenen Körper“ zu sein, kann SE hilfreich sein. Typisch sind Schwierigkeiten mit Abgrenzung, Selbstwahrnehmung oder das wiederholte Erleben von „getriggerten“ Zuständen, die scheinbar ohne aktuellen Anlass auftreten.

Die Methode eignet sich besonders für Klienten, die sich mit rein gesprächstherapeutischen Ansätzen nicht vollständig verstanden fühlen oder deren Beschwerden stark körperlich geprägt sind. SE kann sowohl als eigenständige Therapieform als auch begleitend zu anderen psychotherapeutischen Verfahren eingesetzt werden, insbesondere dann, wenn der Zugang zu traumatischen Inhalten über den Körper leichter fällt als über das Gespräch.

Vorteile & Nutzen

Somatic Experiencing bietet gegenüber anderen Therapie- und Untersuchungsmethoden mehrere spezifische Vorteile, insbesondere im Bereich der Traumatherapie. Ein zentraler Unterschied liegt im körperorientierten Ansatz: Während viele psychotherapeutische Verfahren primär kognitiv oder emotional arbeiten, konzentriert sich SE auf die physiologischen Prozesse im Nervensystem. Das ermöglicht eine tiefere Verarbeitung traumatischer Erfahrungen, die oft nicht vollständig bewusst erinnerbar oder sprachlich zugänglich sind.

Ein weiterer Vorteil ist die behutsame, ressourcenorientierte Vorgehensweise. SE arbeitet mit sehr kleinen Dosen belastender Inhalte („Titration“) und unterstützt dabei, Überwältigung zu vermeiden. Die Therapie verläuft nicht über die Konfrontation mit dem Trauma, sondern über die Stärkung von Sicherheit und Selbstregulation. Dadurch ist SE besonders geeignet für Menschen, die in klassischen Gesprächstherapien an Grenzen stoßen oder sich durch emotionale Überflutung überfordert fühlen.

Zudem ist keine detaillierte Erinnerung an das Trauma notwendig, um Veränderung zu bewirken. Da das Trauma in der Regel im Stammhirn und im Körpergedächtnis gespeichert ist, kann die Lösung auch über den Körper erfolgen – selbst bei präverbalen oder fragmentierten Erinnerungen. SE eignet sich dadurch besonders für frühkindliche Traumata, medizinische Eingriffe, Geburtstraumata oder Situationen, in denen keine bewusste Traumaerinnerung vorhanden ist.

Wirkweise und therapeutischer Ablauf

Während eines traumatischen Erlebnisses wird der menschliche Organismus vorwiegend vom Stammhirn gesteuert – jenem Teil des Gehirns, der für Reflexe und grundlegende Überlebensfunktionen wie Atmung und Herzschlag zuständig ist. In dieser Phase sind rationale Entscheidungen oder bewusste Handlungen kaum möglich.

Wird die physiologische Reaktion – also der Zyklus von Kampf, Flucht oder Erstarrung – nicht vollständig durchlaufen, kann es zu einer Traumafolgestörung kommen. SE zielt darauf ab, diesen Zyklus nachträglich zu vervollständigen. Dabei arbeitet die Methode ressourcenorientiert: Der Fokus liegt nicht auf der Konfrontation mit dem Trauma, sondern auf der Stärkung von Sicherheit, Selbstregulation und körperlicher Wahrnehmung.

Die Behandlung erfolgt meist im Gespräch, wobei der Körper als zentrales Bezugssystem dient. Körperempfindungen, Bewegungsimpulse, innere Bilder oder Emotionen werden beobachtet und in kleinen Dosen (sog. „Titration“) verarbeitet. Dieses behutsame Vorgehen verhindert eine Überwältigung und reduziert das Risiko einer Retraumatisierung.

Ein zentrales Ziel ist die Regulation des autonomen Nervensystems, insbesondere die Balance zwischen Sympathikus (Aktivierung) und Parasympathikus (Entspannung). Dies kann sich positiv auf Vitalfunktionen wie Verdauung, Atmung, Herzfrequenz, Immunsystem und Muskeltonus auswirken.

Anwendungsgebiete

Somatic Experiencing kommt unter anderem bei folgenden Beschwerden und Symptomen zum Einsatz:

  • Psychosomatische Beschwerden

Die Methode eignet sich sowohl für die Arbeit mit Schocktrauma (z. B. Unfälle, plötzliche Verluste) als auch für Entwicklungstrauma (z. B. Bindungsstörungen, frühe Vernachlässigung).

Chancen und Grenzen

Ein wesentlicher Vorteil von SE liegt in seiner nicht-konfrontativen und sanften Herangehensweise. Da keine vollständige Erinnerung an das Trauma erforderlich ist, können auch implizite, körperlich gespeicherte Erfahrungen bearbeitet werden – etwa bei präverbalen Traumata oder frühen Bindungsverletzungen.

Oft berichten Klienten über ein gesteigertes Gefühl von Präsenz, Sicherheit und Lebendigkeit nach einer Sitzung. Die Dauer der Therapie kann stark variieren: Einige erleben bereits nach wenigen Sitzungen spürbare Veränderungen, während bei komplexen Traumata ein längerer Prozess erforderlich ist.

Risiken und Kritik

Trotz seiner positiven Ansätze ist Somatic Experiencing kein Ersatz für eine umfassende psychotherapeutische Behandlung – insbesondere bei schweren psychischen Erkrankungen oder Suizidalität. Eine unsachgemäße Anwendung kann zur Retraumatisierung führen, vor allem wenn der Behandlungsprozess zu schnell oder ohne ausreichende Stabilisierung erfolgt.

Die wissenschaftliche Evidenzlage ist derzeit noch begrenzt, wenn auch wachsend. Erste Studien und Fallberichte zeigen positive Effekte, doch größere randomisierte Kontrollstudien fehlen bislang. Die Methode wird zunehmend in psychotherapeutische, psychosomatische und körpertherapeutische Kontexte integriert.

Alternativen

Wenn Somatic Experiencing nicht möglich oder nicht geeignet ist – etwa aufgrund mangelnder Stabilisierung, schwerer psychischer Erkrankungen oder individueller Vorlieben – stehen verschiedene alternative Verfahren zur Verfügung, die ebenfalls körper- oder traumazentriert arbeiten. Ein bewährter Ansatz ist die EMDR-Therapie (Eye Movement Desensitization and Reprocessing), die mit bilateraler Stimulation arbeitet und insbesondere bei posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) wissenschaftlich gut belegt ist. Sie eignet sich für viele Betroffene, die belastende Erinnerungen aktiv verarbeiten möchten.

Eine weitere körperorientierte Methode ist TRE® (Tension & Trauma Releasing Exercises) nach David Berceli, bei der durch gezielte Übungen neurogenes Zittern ausgelöst wird, um Spannungen im Nervensystem abzubauen. Diese Methode lässt sich auch außerhalb therapeutischer Settings anwenden.

Auch die Sensorimotor Psychotherapy sowie die körperorientierte Psychotherapie nach Wilhelm Reich und die daraus abgeleitete Bioenergetik arbeiten mit dem Körper als Zugang zu tiefer liegenden Erfahrungen. Für komplexe Traumata kann die Teilearbeit nach dem Modell der Inneren Familie (IFS) oder die Psychodynamisch Imaginative Traumatherapie (PITT) hilfreich sein.

Darüber hinaus bieten sich achtsamkeitsbasierte Verfahren wie MBSR (Mindfulness-Based Stress Reduction) an, die helfen können, Körperempfindungen wahrzunehmen und zu regulieren, wenn direkte Traumaexposition zu früh wäre oder vermieden werden muss.

Zusammenfassung

Somatic Experiencing ist eine vielversprechende körperorientierte Methode zur Traumabewältigung. Sie richtet den Fokus auf die Selbstregulationsfähigkeit des Nervensystems und geht davon aus, dass der Körper über angeborene Mechanismen zur Heilung traumatischer Erfahrungen verfügt. Bei fachkundiger Anwendung und in einem geschützten therapeutischen Rahmen kann SE eine wirksame Ergänzung zur klassischen Psychotherapie darstellen – insbesondere bei der Verarbeitung tief im Körper verankerter Traumafolgen.

Quellen

  • Sprache ohne Worte: Wie unser Körper Trauma verarbeitet und uns in die innere Balance zurückführt von Peter A. Levine und Karin Petersen
  • Traumaheilung: Das Erwachen des Tigers. Unsere Fähigkeit, traumatische Erfahrungen zu transformieren von Peter A. Levine & Ann Frederick
  • David Berceli: Körperübungen für die Traumaheilung. Norddeutsches Institut für Bioenergetische Analyse
  • Somatic Healing: Wie du dich von Schmerzen, Unruhe und Erschöpfung befreist. von Julia Wohlfarth

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