Verhaltensstörungen
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 28. Februar 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Verhaltensstörungen - auch Verhaltensauffälligkeiten genannt - können im frühkindlichen Alter eine spätere psychische Erkrankung anzeigen. Ob sie Behandlungswert haben, ist aber eine andere Sache. Die meisten Menschen zeigen im Laufe ihres Lebens gewisse Verhaltensstörungen, die einen vorübergehenden Charakter haben.
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Was sind Verhaltensstörungen?
Die einfachste Definition von Verhaltensstörungen ist jene, die nicht "normales" oder unangemessenes Verhalten kennzeichnet. Problematisch und ethnisch verschieden ist dabei, was als "normal" begriffen wird.
In Tibet begrüßte man sich bis 1959 mit herausgestreckter Zunge, hier galt das als unanständig und obszön. Man kann bestimmte Verhaltensstörungen als Warnsignale oder Hilferufe interpretieren. Viele Verhaltensstörungen wie Aggressionen, mutwilliges Zerstören von Gegenständen, Randalieren, hyperaktives Ausagieren, Verweigerungshaltung, obszöne Verhaltensweisen, Schreien, übergroße Ängstlichkeit oder nicht altersgemäßes Einnässen ohne eine Demenzerkrankung beurteilt man unterschiedlich.
Daher gibt es zahlreiche mehr oder weniger detaillierte Definitionsansätze für Verhaltensstörungen.
Ursachen
Sie können schulischem Stress, ständigen Misserfolgen, zu hohem Erwartungsdruck, mangelnder Anerkennung, langer Krankheit, Behinderung oder Mobbing geschuldet sein, innere Rebellion gegen Hierarchien darstellen oder schlicht und einfach durch Lieblosigkeit ausgelöst werden.
In Frage kommen aber auch Hirnschädigungen, Traumata in der Kindheit, unterdrückte Ängste, bedrückende Einsamkeit, bestimmte körperliche oder seelische Erkrankungen. Auch Erziehungsfehler können als Verhaltensstörung manifest werden. Daraus folgt, dass viele Verhaltensstörungen gut behandelbar sind. Oft sind sie vorübergehender Natur.
Andere wachsen sich zu einem echten Problem aus, das behandlungsbedürftig ist. Hierzu gehört beispielsweise das Zerschneiden des eigenen Körpers.
Symptome, Beschwerden & Anzeichen
Verhaltensstörungen können in jedem Lebensalter auftreten. Anzeichen sind keineswegs eindeutig und lassen Fehldeutungen zu. Betroffene richten ihr Verhalten gegen eine übliche Norm in ihrer Umwelt oder bei sich selbst. Viele Symptome treten nur zeitweilig auf. Ein Unterschied zu anderen psychischen Erkrankungen lässt sich nicht immer eindeutig bestimmen.
Betroffene leiden meist an inneren Konflikten. Diese drücken sich etwa in plötzlichen und unerwarteten Stimmungsschwankungen gegenüber ihrer Umwelt aus. Eine grundlegende Aggressivität liegt vor. Schon kleine Missgeschicke oder belanglose Alltäglichkeiten werden in ein negatives Licht gestellt. In gewissen Phasen arbeiten Personen hyperaktiv und äußerst euphorisch mit anderen zusammen, während sie sonst zurückgezogen leben.
Frauen und Männer mit einer Verhaltensstörung erwecken den Eindruck, mit sich selbst nicht im Reinen zu sein. Sie können ihrem Leben oft keinen Sinn beimessen und fühlen sich minderwertig. Angst vor Neuem und Veränderungen kennzeichnet ihr Dasein. Manche Betroffene schlafen schlecht, was angesichts einer ständigen inneren Unruhe nicht verwundert.
Das abnorme Verhalten sorgt dafür, dass man allgemeingültige Standards nicht beachtet. Essstörungen oder ein übermäßiger Konsum von Alkohol stellen sich in letzter Konsequenz ein. Manche Patienten können sich nur unzureichend auf das Erreichen persönlicher und beruflicher Ziele konzentrieren.
Diagnose & Verlauf
Diagnose und Verlauf von Verhaltensstörungen sind meist relativ einfach. Die meisten Verhaltensstörungen finden öffentlich statt und können von jedem wahrgenommen werden. Andere werden heimlich ausgeführt, fallen aber irgendwann auf.
Aus den Klassifizierungen im ICD-10 kann man ersehen, wie fließend die Übergänge zur psychischen Störung sein können. Psychische und Verhaltensstörungen werden im Diagnoseschlüssel in
- organische und symptomatisch-psychische Störungen
- psychische bzw. Verhaltensstörungen wegen der Einnahme psychotroper Substanzen
- Schizophrenie oder wahnhafte Störungen
- affektive Störungen
- neurotische, Überlastungs- oder somatoforme Verhaltensstörungen
- Verhaltensauffälligkeiten in Begleitung körperlicher Symptome
- Persönlichkeits- oder Verhaltensstörungen
- Intelligenzeinschränkungen
- entwicklungsbedingte Verhaltensstörungen
- frühe Verhaltens- und Gefühlsstörungen
- sonstige psychische Störungen
aufgeschlüsselt. Wo Verhaltensstörungen beginnen und wann sie als psychische Auffälligkeit oder Erkrankung gewertet werden, ist verschieden. Viele Verhaltensstörungen werden vom Betroffenen nicht als Leidensdruck wahrgenommen. Mit sich selbst zu sprechen, gilt beispielsweise heute als normal.
Komplikationen
In der Regel wirken sich Verhaltensstörungen immer sehr negativ auf den Alltag des Betroffenen aus und können diesen erheblich erschweren. Vor allem bei Kindern führen diese Störungen zu einer deutlich verzögerten Entwicklung und weiterhin auch zu Beschwerden im Erwachsenenalter. Auch Mobbing oder Hänseleien können dabei auftreten und zu psychischen Verstimmungen oder sogar zu Depressionen führen.
Die Patienten leiden dabei häufig an Angstgefühlen, sogar an ADHS oder an Störungen der Konzentration. Weiterhin tritt häufig auch eine innere Unruhe auf, sodass die Betroffenen sehr gereizt sind und unruhig öde nervös wirken. Ebenso können Stimmungsschwankungen oder Störungen der Persönlichkeit durch die Verhaltensstörungen eintreten. Auch die Eltern sind bei Verhaltensstörungen von psychischen Beschwerden oder Depressionen betroffen und benötigen häufig ebenfalls eine Behandlung.
Der weitere Verlauf hängt allerdings sehr stark von der genauen Störungen und ihrer Ausprägung ab. In schwerwiegenden Fällen wird die Behandlung von Verhaltensstörungen allerdings in einer geschlossenen Klinik durchgeführt. Bei der Behandlung selbst treten keine Komplikationen auf. Die Beschwerden können mit Hilfe verschiedener Therapien oder auch durch Medikamente gelöst werden. Eine vollständige Heilung kann nicht vorhergesagt werden.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Menschen, die dauerhaft ein Verhalten ab der Norm zeigen, sollten für eine Beobachtung und Einschätzung der Situation einen Arzt konsultieren. Probleme in einem sozialen Miteinander, unangemessene Reaktionen oder erkennbare emotionale Überforderungen sind Anzeichen einer gesundheitlichen Beeinträchtigung. Fühlen sich Betroffene wie auch deren Angehörige im gegenseitigen Umgang deutlich überfordert, ist die Rücksprache mit einem Mediziner anzuraten. Bei selbstzerstörerischen Handlungen, permanenten Konfliktsituationen im Alltag, Beleidigungen oder Störungen der Konzentration wird Hilfe benötigt. Kann kein geregelter Tagesablauf stattfinden, werden soziale Verpflichtungen nicht eingehalten oder zeigt der Betroffene ein übertriebenes leichtsinniges und gefährdendes Auftreten, sollte ein Arzt aufgesucht werden.
Wutanfälle, starke Weinerlichkeit, eine mangelnde Hygiene sowie fehlende Empathie weisen auf eine Störung hin. Kontrollverlust, das Brechen von bestehenden Regeln und Absprachen, die einer besseren Organisation im Alltag dienen sowie Auffälligkeiten der Sprachgebung gehören ebenfalls zu Beschwerden, die untersucht werden sollten.
Zeigen sich Störungen der Willkürbewegung oder des Schlafs, ist dies als Alarmsignal des Organismus zu verstehen. Treten die Auffälligkeiten plötzlich auf, liegen meist akute Störungen mit einem schnellstmöglichen Handlungsbedarf vor. Da es zur Charakteristik von Verhaltensstörungen gehört, dass dem Betroffenen selbst das Bewusstsein für seine Handlungen fehlt, sind Angehörige und Menschen aus dem sozialen Umfeld häufig in der Verpflichtung, Hilfe zu holen.
Behandlung & Therapie
Die Behandlung von Verhaltensstörungen richtet sich immer nach der Störung. Bei ADHS-Kindern muss man anders vorgehen als bei einem hochaggressiven Mann, der sich jeder Behandlung widersetzt oder einer alkoholabhängigen Frau, die sich im Rausch der Fäkalsprache bedient und gelegentlich Wahnvorstellungen entwickelt.
Gesprächs- und Verhaltenstherapie bieten bei vielen Verhaltensstörungen gute Ansätze. Die zu Grunde liegende Ursache für die Verhaltensstörungen muss gefunden werden, wenn die Maßnahme Erfolg versprechen soll. In manchen Fällen muss man mit medikamentöser Behandlung ansetzen. In anderen ist ein Drogen- oder Alkoholentzug in einer entsprechenden klinischen Einrichtung der geeignete Behandlungsansatz. Die Verhaltensstörungen verschwinden oft, wenn man die Ursache behandelt.
Aggressionen von Kindern nach der Scheidung der Eltern oder wegen latenter psychischer Störungen der Bezugsperson können beispielsweise mit einer Familientherapie gut in den Griff bekommen werden. Im Familiengefüge darf vieles nicht ausgesprochen werden, gibt es Tabus und mühsam Unterdrücktes, was Verhaltensstörungen auslösen kann. Im geschützten Raum einer Familientherapie kann man solche Dinge aber ansprechen.
Vorbeugung
Zur Vorbeugung von Verhaltensstörungen trägt ein gesundes, offenes Klima bei, in dem jeder sich äußern kann. Bei auftretenden Verhaltensstörungen kann man Ursachenforschung betreiben und gemeinsam versuchen, die zu Grunde liegenden Konflikte zu lösen. Die Person, die Verhaltensstörungen aufweist, kann andere Wege erlernen, mit ihren Konflikten und Problemen umzugehen. Verhaltensgestörte Kinder bezeichnet man heute nicht mehr als schwer erziehbar. Die Probleme liegen oft tiefer.
Nachsorge
Verhaltensstörungen sind ein weites Feld und die Nachsorge ist daher individuell exakt abzustimmen. Sie ist aber in den meisten Fällen sehr wichtig, weil Verhaltensstörungen durch eine Therapie häufig nicht vollständig beseitigt werden können und das Erlernte immer wieder in den privaten und beruflichen Alltag zu integrieren ist.
Die Nachsorge kann in Zusammenarbeit mit Psychologen oder dem Hausarzt abgesprochen werden und erfordert die aktive Mitarbeit des Patienten. Oft ist auch der Besuch einer Selbsthilfegruppe mit Gleichgesinnten hilfreich. Der Erfahrungsaustausch in geschütztem Rahmen baut Ängste ab und kann den Betroffenen wertvolle Tipps für die Bewältigung seiner Verhaltensstörungen geben.
Oft ist es der soziale Kontakt, der bei Verhaltensstörungen hilft. Freunde, Kollegen und Nachbarn können im Rahmen der Nachsorge wichtig sein, sodass Kommunikation und anderer Kontakt nicht zu vernachlässigen ist. Im Sportverein oder im Volkshochschulkurs entdecken Menschen mit Verhaltensstörungen Gelegenenheiten, ungünstige Verhaltensweisen abzulegen und neue Verhaltensmuster nach und nach in ihr Leben zu integrieren.
Das Erlernte aus der Therapie wird somit konsequent in die Praxis umgesetzt. Über Erfolgserlebnisse aus sozialen Kontakten können die Verhaltensstörungen weiter abgebaut und neues Selbstvertrauen hinzugewinnen werden. Wenn Verhaltensstörungen auch an innere Unruhe geknüpft sind, helfen oft Entspannungsmethoden wie die Progressive Muskelrelaxation, das Autogene Training oder Yoga, die am besten im Kurs gelernt werden.
Das können Sie selbst tun
Patienten mit Verhaltensstörungen werden durch die Erkrankung oftmals stark in ihrem alltäglichen Leben eingeschränkt. In manchen Fällen ist es den Betroffenen nicht mehr möglich, ihre berufliche Tätigkeit weiterhin auszuüben und einem geregelten Alltag nachzugehen. Häufig sind sie auf die Hilfe von Angehörigen angewiesen.
Bei Verhaltensstörungen ist es besonders wichtig, dass die Betroffenen einen geregelten Tagesablauf haben. So empfiehlt sich das strikte Einhalten von Aufsteh- und Zubettgeh-Zeiten sowie geregelte Essenszeiten. Die Betroffenen sollten auf Alkohol und stark koffeinhaltige Getränke verzichten. Nikotinkonsum sollte gegebenenfalls reduziert werden. Wichtig ist zudem eine ausgewogene vitaminreiche und zuckerarme Ernährung. Regelmäßige sportliche Betätigung kann ebenfalls hilfreich sein. Empfehlenswert ist etwa tägliches morgendliches Joggen, Spaziergänge oder Schwimmen. Auch Entspannungstechniken wie Yoga können wirksam sein.
Die Betroffenen sollten sich keinesfalls in die Einsamkeit zurückziehen. Gesellschaftliche Ereignisse wie Familienfeste sollten besucht werden, sofern es den Patienten möglich ist. Es empfiehlt sich jedoch in manchen Fällen, Verwandte und Freunde einzuweihen und über die Erkrankung aufzuklären. Hilfe erhalten Betroffene und ihre Angehörigen außerdem in Selbsthilfegruppen oder in Internetforen für Menschen mit psychischen Erkrankungen.
Quellen
- Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
- Köhler, T.: Medizin für Psychologen und Psychotherapeuten. Schattauer, Stuttgart 2014
- Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015