Anosognosie

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Die Anosognosie ist durch ein fehlendes Bewusstsein für körperliche Defizite oder Erkrankungen gekennzeichnet. Meist liegt eine rechtshemisphärische Parietallappenläsion vor. Da keine Krankheitseinsicht besteht, ist eine erfolgreiche Therapie nur sehr schwer durchzuführen.

Inhaltsverzeichnis

Was ist eine Anosognosie?

Der Schlaganfall ist die Hauptursache für die organisch bedingte Anosognosie. Die betroffenen Patienten können in diesen Fällen die Ausfälle einer Körperhälfte oder einiger sensorischer Funktionen nicht wahrnehmen.

Bei der Anosognosie handelt es sich um das Nichterkennen offensichtlicher körperlicher Behinderungen durch den Betroffenen selber. Der Patient leugnet beispielsweise halbseitige Lähmungen, Blindheit oder Taubheit. Aus dem Griechischen übersetzt, bedeutet der Begriff die Verneinung einer Krankheit. Die Anosognosie tritt in zwei Formen auf: So kann es sich einerseits um ein Nichterkennenkönnen und anderseits um ein Nichterkennenswollen der Störung handeln.

Während das Nichterkennenkönnen eher durch neurologische und organisch bedingte Ursachen hervorgerufen wird, handelt es sich beim Nichterkennenwollen meist um eine psychopathologische Erkrankung. Insgesamt werden wiederum vier Unterarten der Anosognosie unterschieden:

  • die Somatoparaphrenie (Zuordnung eigener Extremität einer anderen Person)
  • die Anosodiaphorie - dabei wird die eigene Krankheit als Lappalie bezeichnet. Die Störung wird von den Patienten ignoriert und geleugnet.

Ursachen

Eine Anosognosie wird sehr häufig durch einen rechtshemisphärischen Parietallappendefekt hervorgerufen. Dieser kann sehr häufig durch einen Schlaganfall ausgelöst werden. Durch die Schädigung der rechten Hirnhälfte dominiert die linke Hirnhälfte mit ihrem Sprachzentrum. Jede Hirnhälfte koordiniert die Funktionen der jeweiligen entgegengesetzten Körperhälfte. Wenn also die rechte Hirnhälfte geschädigt wird und gleichzeitig die Kommunikation beider Hirnhälften unterbrochen ist, kann es zu einer linksseitigen Körperlähmung kommen, die von den betroffenen Patienten ignoriert und wegerklärt werden.

Das Gleiche gilt für die Rindenblindheit oder bestimmte Formen der Taubheit, die auf Informationsverarbeitungsstörungen im Hirn beruhen. Meist werden nur linksseitige Körperstörungen ignoriert, da die intakte linke Hirnhälfte ausschließlich Funktionen der rechten Körperhälfte koordiniert. Bei Störungen in der linken Hirnhälfte dominiert zwar die rechte Hirnhälfte. Die Auswirkungen sind bezüglich einer Anosognosie jedoch meist nicht so gravierend, weil die rechte Hirnhälfte dann teilweise auch Funktionen der linken Hirnhälfte übernimmt.

Der Schlaganfall ist die Hauptursache für die organisch bedingte Anosognosie. Die betroffenen Patienten können in diesen Fällen die Ausfälle einer Körperhälfte oder einiger sensorischer Funktionen nicht wahrnehmen. Es gibt aber auch psychopathologische Ursachen für Anosognosien im weiteren Sinne. Diese treten unter anderem bei Schizophrenie oder Demenz auf.

Die Schizophrenie ist durch Störungen der Wahrnehmung, des Denkens und der Ichfunktion gekennzeichnet. Daher besteht für diese Patienten in der Akutphase der Erkrankung keine Möglichkeit der Krankheitseinsicht. Bei der Demenz verhindert der extreme Gedächtnisschwund ein Krankheitsbewusstsein.


Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Die Anosognosie ist keine eigene Erkrankung, sondern ein Symptom einer zugrundeliegenden Störung. Meist tritt sie im Rahmen eines Schlaganfalls auf.

Aber auch andere Krankheitsprozesse im Hirn können zu Schädigungen des rechtshemisphärischen Parietallappens führen. Dadurch werden halbseitige Lähmungen der linken Körperseite von einigen Patienten ignoriert. Sie verhalten sich weiterhin so, als ob keine Einschränkung bestehen würde. Die Folge sind beispielsweise häufige Stürze mit Verletzungen.

Die vielen kleineren Unfälle werden unter anderem durch Ungeschicklichkeiten erklärt. Auch Blindheit und Taubheit, welche durch Störungen in der Informationsverarbeitung entstehen, werden geleugnet. Blindheit wird unter anderem mit äußeren Ursachen wie Dunkelheit erklärt. In einigen Fällen erscheinen hauptsächlich linksseitige Gliedmaßen fremd oder gar nicht existent. Die als Neglect bezeichnete Störung ist eine besondere Form der Anosognosie.

Beim Neglect werden neben den linksseitigen Beeinträchtigungen oft auch die gesamte linke Körperseite und alle links vom Körper ablaufenden Vorgänge ignoriert. Die Patienten waschen nur die rechte Körperseite, rasieren nur die rechte Gesichtshälfte oder essen nur von der rechten Tellerhälfte.

Bei psychopathologischen Erkrankungen wie Schizophrenie oder Demenz kann sich die Anosognosie auf alle möglichen körperlichen Einschränkungen beziehen. Hier fehlen eine allgemeine Krankheitseinsicht bezüglich der Grundkrankheit und deren Symptome. Bei der Demenz werden die Krankheitserscheinungen buchstäblich vergessen und bei der Schizophrenie häufig umgedeutet.

Diagnose & Verlauf

Eine Anosognosie kann häufig schnell festgestellt werden, wenn offensichtliche Behinderungen hartnäckig geleugnet werden. Zur Diagnostik eines Neglects gibt es einige neuropsychologische Testverfahren. Durch Zeichnen, Suchaufgaben, Kopieren und Leseaufgaben kann der Arzt schnell einen Neglect diagnostizieren. So wird beispielsweise eine Uhr nur halb gezeichnet oder beim Lesen werden die links stehenden Wörter ignoriert.

Komplikationen

Die Anosognosie führt häufig zu Komplikationen. Diese können je nach Form und Ausprägung der Anosognosie unterschiedlich ausfallen. Gekennzeichnet bzw. definiert ist Anosognosie durch das Nichterkennen körperlicher Defizite und/oder Erkrankungen.

Durch dieses Nichterkennen und verneinen der offensichtlich bestehenden körperlichen Defizite bzw. Erkrankungen kann es zu diversen Problemen im Alltag kommen. Dies liegt zu einem großen Teil darin begründet, dass der Patient sich selbst Tätigkeiten zumutet, die er aufgrund des tatsächlich vorliegenden Defizits bzw. der tatsächlich vorliegenden Erkrankung nicht ausüben sollte oder auch nicht ausüben kann.

Hieraus können Verletzungen oder Verschlechterungen der jeweils bestehenden Erkrankungen resultieren. Dem Patienten zu vermitteln, dass das Ausüben bestimmter Tätigkeiten ihm nicht möglich ist oder aus gesundheitlichen Gründen unterlassen werden sollte, ist schwierig bis unmöglich. Für den Patienten ist klar, dass er selbst nicht erkrankt ist und nicht an einem körperlichen Defizit leidet. Es handelt sich hierbei nicht um ein "Ignorieren" des Leidens sondern um ein tatsächliches Nichtwahrnehmen. Dies erschwert die Verdeutlichung, dass bestimmte Verhaltensweisen abgestellt werden sollten.

Des Weiteren kommt es im Rahmen der Anosognosie häufig zum sogenannten Konfabulieren. Hierbei erzählt der Patient offensichtlich unwahre Dinge, die ihm persönlich aber als wahr erscheinen. Er ist im Moment des Erzählens von der Wahrheit des Gesagten überzeugt. Dies kann zu Problemen im zwischenmenschlichen Bereich führen, was auch als "Komplikation" im Rahmen der Anosognosie gesehen werden kann.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Der Weg zum Arzt bei einer Anosognosie ist grundsätzlich als unverzüglich einzustufen. Problematisch ist jedoch, dass es sich bei dieser Erkrankung um eine Art Paradoxon handelt. Meist ist die Diagnose einer vorhandenen Grunderkrankung bereits gestellt und der Patient ist umfassend informiert.

Hinzu kommt eine Anosognosie und damit die Fehleinschätzung. Trotz ausreichender Symptome hat der Betroffene selbst eine andere Einschätzung der Situation und hält sich oftmals nicht an die Ratschläge des Facharztes. Ist das Vertrauen zu den Angehörigen und weiteren Bezugspersonen des sozialen Umfeldes groß genug, kann es sein, dass ein Patient der Anosognosie regelmäßig einen Arzt konsultiert. Dies wäre optimal, da dadurch Einfluss genommen werden kann. Dennoch ist erwartbar, dass sich der Patient trotzdem durch die Selektivität seiner eigenen Wahrnehmung nicht an ärztliche Hinweise hält und den Weg zum Arzt nicht suchen wird.

Aus diesem Grund ist zu empfehlen, dass sich Angehörige mit dem Arzt absprechen, umfassend über den Gesundheitszustand des Erkrankten informieren und schonend versuchen, Einfluss zu nehmen. Das wiederholte Aufzeigen von Vergleichsfällen oder Testergebnissen bildgebender Verfahren sowie klinischer Studien kann hilfreich sein, um das Bewusstsein für die eigene Erkrankung immer wieder zu aktivieren. Hilfreich ist es, wenn es Angehörigen gelingt, in Situationen der Überschätzung dem Betroffenen sofort beizustehen.

Behandlung & Therapie

Glücklicherweise ist eine langwierige Behandlung einer Anosognosie meist nicht nötig. Sie bildet sich in den meisten Fällen nach einigen Tagen bis zu wenigen Wochen von alleine wieder zurück. Generell ist es schwierig, Patienten mit Anosognosie zu behandeln, weil die Krankheitseinsicht fehlt. Zur Therapie gehört es natürlich auch, dass der Patient freiwillig mitmacht. In schweren Fällen, in welchen die Anosognosie länger bestehen bleibt, muss zunächst die Einsicht in die Erkrankung durch psychotherapeutische Behandlungen erzeugt werden.

Speziell bei einem Neglect gibt es eine Reihe von Therapieverfahren. Unter anderem kann die geschädigte Hirnhälfte vorübergehend durch eine kalorische Stimulation aktiviert werden, wobei entweder kaltes oder warmes Wasser in den Gehörgang gespült wird. Patienten mit Schizophrenie bedürfen einer medikamentösen Medikation, die gegebenenfalls zwangsweise appliziert wird. Danach steigt meist die Krankheitseinsicht wieder, was die Patienten dann zu einer freiwilligen Medikation bewegt.

Aussicht & Prognose

Die Erkrankung basiert auf Schäden bestimmter kortikaler Bereiche auf der rechten Seite der Hirnhälften. Die menschlichen Hirnareale können nach dem heutigen Stand der Wissenschaft nur unzureichend oder gar nicht geheilt werden. Daher bleiben die vorhandenen Beeinträchtigungen konstant vorhanden oder können weiter fortschreiten.

Eine Verschlechterung des gesundheitlichen Zustandes ist abhängig von der vorliegenden Ursache der Anosognosie. In den meisten Fällen wird die Krankheit plötzlich durch einem erlittenen Schlaganfall verursacht. Hier kann davon ausgegangen werden, dass sich über eine lange Zeit keine Veränderungen der bestehenden Symptome einstellen werden.

Die Beschwerden bleiben konstant erhalten, da durch die mangelnde Krankheitseinsicht des Patienten nur wenige Möglichkeiten für eine wirksame Therapie oder medizinische Versorgung vorhanden sind. Viele Patienten lehnen eine medizinische Versorgung aufgrund der fehlenden Wahrnehmung der körperlichen Beschwerden ab. Liegt eine psychopathologische Grunderkrankung vor, kann es zu einer weiteren Verschlechterung der Gesundheit und Zunahme der Symptome kommen.

Bei einer Demenz schreitet der Zerfall der Funktionsfähigkeit der Hirnareale schrittweise meist über mehrere Jahre weiter voran. Das führt zu einer Ausweitung des beschädigten Gewebes bei gleichzeitiger Minderung der geistigen Möglichkeiten. Das Nichterkennen und Nichterinnern nehmen zu. Im weiteren Verlauf kommt es neben Orientierungsproblemen und dem Wissensverlust weiterführend zu motorischen Einschränkungen.


Vorbeugung

Einer Anosognosie kann nicht vorgebeugt werden. Sie tritt im Rahmen von Schlaganfällen und psychopathologischen Erkrankungen auf. Nur die bestmögliche Behandlung und Nachsorge dieser Erkrankungen kann das Risiko eines erneuten Auftretens der Anosognosie verringern.

Nachsorge

Nach einer Anosognosie müssen die regelmäßigen Verlaufskontrollen in Anspruch genommen werden. Normalerweise konzentriert sich die Nachsorge darauf, dem Patienten eine geeignete Therapie zu ermöglichen, indem etwaige Auslöser ermittelt werden. Der Patient sollte alle sechs Monate einen Neurologen aufsuchen.

Zudem müssen in regelmäßigen Abständen Verlaufskontrollen durch den Augenarzt, Ohrenarzt oder Orthopäden stattfinden, abhängig von der Erkrankung, die der Patient sich weigert zu erkennen und dem damit verbundenen Symptombild. Zur Nachsorge gehört eine psychologische Beratung. Insofern der Patient sich bereit erklärt, die Therapie fortzusetzen, können weitere Maßnahmen eingeleitet werden.

So bieten sich Verhaltenstherapien und kognitives Training an, um das Risiko für eine erneute Anosognosie zu senken. Die Nachsorge umfasst eine Anamnese, bei der sich der Patient noch einmal intensiv mit den Ängsten des Patienten befasst. Bei einem positiven Verlauf, wenn der Patient die Erkrankung anerkannt und behandeln lässt, sind keine weiteren Arztgespräche vonnöten.

Erkennt der Patient die Erkrankung nicht an, kommen weitere Therapien in Frage. Bei älteren Patienten wird die psychologische Behandlung schließlich eingestellt, wenn sich keine Besserung des Erkennungsvermögens zeigt. Dennoch muss versucht werden, den Patienten von einer Behandlung des ursprünglichen Leidens zu überzeugen.

Das können Sie selbst tun

Da der Patient bei einer Anosognosie die Störung, unter der er leidet, entweder nicht erkennen kann oder nicht erkennen will, ist Selbsthilfe in aller Regel ausgeschlossen. Unterstützende Maßnahmen jenseits ärztlicher Betreuung müssen durch das soziale Umfeld des Patienten geleistet werden.

Was dazu erforderlich ist, hängt von der Art der Grunderkrankung ab, die der Patient verdrängt. Sofern es sich dabei um halbseitige Blindheit oder Taubheit handelt, reichen in der Regel Maßnahmen, die der Unfallverhütung dienen. Die Patienten sind in aller Regel nicht mehr im Stande, selbständig ein Kraftfahrzeug zu lenken. Sofern hierin keine Einsicht seitens des Betroffenen besteht, müssen der PKW oder das Fahrrad notfalls gegen dessen Willen sichergestellt werden.

Öffentliche Verkehrsmittel sollten Patienten nicht alleine nutzen, da durch den unbewussten Verlust eines Sinnesorgans eine stark erhöhte Unfallgefahr besteht. Auch im Wohnumfeld sollten Gefahrstellen abgesichert werden. Dazu zählen zum Beispiel spitzkantige Möbelstücke, offenes Feuer, heiße Herdplatten und Stufen aller Art.

Zuträglich ist es meist auch, wenn das soziale Umfeld dem Patienten sein verdrängtes Leiden, mit gebotenem Feinsinn, vor Augen führt. Bei sichtbaren Störungen besteht eine effektive Methode der Konfrontation darin, den Patienten zu fotografieren und ihm das Foto sofort im Anschluss zu zeigen. Sichtbare Deformationen können dann vom Betroffenen nicht mehr einfach wegrationalisiert werden. Der Patient wird so gezwungen, sich mit seinem Leiden auseinanderzusetzen.

Quellen

  • Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
  • Masuhr K., Masuhr, F., Neumann, M.: Duale Reihe Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013
  • Mattle, H., Mumenthaler, M.: Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013

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