Progressive Bulbärparalyse
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. Februar 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Bei der progressiven Bulbärparalyse sterben die motorischen Hirnnervenkerne des Nervus trigeminus, facialis, glossopharyngeus, vagus und hypoglossus ab. Dieser Schwund hat eine Paralyse des Gesichts und der Speiseröhre zur Folge. Eine ähnliche Symptomatik kennzeichnet ALS, sodass die progressive Bulbärparalyse zuweilen als ALS-Unterform bezeichnet wird.
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Was ist eine progressive Bulbärparalyse?
Die progressive Bulbärparalyse ist eine systemisch fortschreitende Atrophie, die mit einem Gewebsschwund in den motorischen Hirnnervenkernen assoziiert ist. Der Gewebsschwund hat die Medulla oblongata zum Zentrum und breitet sich von dort aus. Neben einer Form der Erkrankung beim Erwachsenen existiert eine infantile Variante mit kindlichem Manifestationsalter.
Beide Formen der Erkrankung zählen zu den neurologischen Erkrankungen und betreffen vor allem die Motoneuronen. Die progressive Bulbärparalyse wird den spinalen Muskelatrophien zugerechnet, die mit einem speziellen Verteilungsmuster assoziiert sind. Mit Krankheitsbeginn im Kindesalters wird die Krankheit zuweilen auch Fazio-Londe-Syndrom genannt.
Die progressive Bulbärparalyse des Erwachsenenalters wird von einigen Quellen als Sonderform der degenerativen Erkrankung ALS bezeichnet. Wenn die progressive Bulbärparalyse mit Symptomen der Taubheit vergesellschaftet ist, wird sie auch als Brown-Vialetto-van-Laere-Syndrom bezeichnet.
Ursachen
Die Verwandtschaft mit der degenerativen Erkrankung ALS wird vor allem aufgrund der entdeckten Mutation im SOD-Gen vermutet, das für das beschriebene Enzym codiert. So lässt sich diese Mutation nicht nur an vielen Fällen der progressiven Bulbärparalyse nachweisen. Neueren Forschungsergebnissen zufolge lassen sich die Defekte im SOD-Gen auch bei Menschen zu mit der erblich familiären Form von ALS nachweisen.
Durch den Defekt entstehen zytotoxische Wirkungen des unstabilisierten SOD. Die Mutation unterstützt eine hohe Akkumulationsneigung des entsprechenden Proteins, die für den Zelltod verantwortlich ist. Nur nukleäre Läsionen der Hirnnervenkerne verursachen Bulbärparalysen. Eine supranukleäre Läsion ruft dagegen eine Pseudobulbärparalyse hervor.
Symptome, Beschwerden & Anzeichen
Die progressive Bulbärparalyse lässt das Gewebe der motorischen Kerngebiete Schritt für Schritt untergehen. Die Patienten leiden an zunehmenden Schwierigkeiten bei alltäglichen und lebenswichtigen Bewegungen wie dem Kauen, den Schlucken oder dem Sprechen. Der Würgereflex der meisten Betroffenen ist binnen kürzester Zeit deutlich herabgesetzt.
Nur eine schwache Bewegungen im fazialen Bereich ist ihnen noch möglich. Anders als bei ALS ist nicht die Gesamtheit des motorischen Kerngebiets von den degenerativen Veränderungen betroffen. Stattdessen konzentriert sich die Erkrankung vor allem auf die Hirnnerven V, VII, IX, X und XII sowie die kortikobulbären Bahnen innervierter Muskeln. Die Erkrankung betrifft also vorwiegend die Motoneuronen in den Kerngebieten des Nervus trigeminus, Facialis, glossopharyngeus, vagus und hypoglossus.
Daher leiden die Patienten anders als Patienten der ALS in der Regel nicht an spastischen oder schlaffen Lähmungen der Gliedmaßen. Auch Lunge und Herz sind nicht betroffen. Die progressive Bulbärparalyse konzentriert sich symptomatisch auf das Gesicht, wobei die Augenmuskelkerne erhalten bleiben.
Diagnose & Krankheitsverlauf
Die Diagnose auf eine progressive Bulbärparalyse wird mittels bildgebender Verfahren gestellt. Im MRT oder CT zeigen sich die nukleären Läsionen in den entsprechenden Kerngebieten. Die Erkrankung muss differentialdiagnostisch von ALS abgegrenzt werden. Wegen der progressiv zunehmenden Dysphagie gilt für alle Formen der Erkrankung eine ungünstige Prognose.
Eine häufige Komplikation besteht in der Aspiration von Nahrungsbestandteilen oder Speichel, die oft Pneumonien auslöst und innerhalb von einem oder drei Jahren häufig zum Tod der Patienten führt. In den meisten Fällen schreitet die Erkrankung mit hoher Geschwindigkeit fort. Ein schnelles Fortschreiten verschlechtert die Prognose.
Komplikationen
Zusätzlich besteht jedoch immer das Risiko einer Aspiration von Nahrungsmitteln, die zu tödlichen Komplikationen führen kann. Bei der Aspiration handelt es sich um ein unbeabsichtigtes Einatmen von Nahrungsmitteln, Flüssigkeiten oder Fremdkörpern, die dann in die Bronchien gelangen. Dort können sie zu schweren Infektionen führen, weil der Körper allein nicht in der Lage ist, die Fremdkörper aus den Bronchien zu entfernen. Als Folge dieser Aspirationen von Nahrungsmitteln oder Speichel entwickeln sich häufig schwere Pneumonien (Lungenentzündungen).
Bei der infantilen progressiven Bulbärparalyse führen diese Komplikationen bereits häufig zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr zum Tod. Im Erwachsenenalter tritt die progressive Bulbärparalyse oft im Rahmen der amyotrophischen Lateralsklerose (ALS) auf. Hier stellt bereits die Lähmung der Schluckmuskulatur eine besondere Komplikation der ALS dar und ist verantwortlich für die schlechte Prognose dieser Erkrankung.
Die beste Prognose hat die progressive Bulbärparalyse mit Taubheit (Brown-Vialetto-van-Laere-Syndrom). Neben schnell fortschreitenden Krankheitsverläufen bis zum Tod kann bei einem Drittel der Patienten der Verlauf zumindest zeitweise aufgehalten werden.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Einschränkungen des Schluckaktes, Probleme bei dem Kauvorgang und optische Auffälligkeiten im Gesicht sowie Halsbereich sind einem Arzt vorzustellen. Wird die Nahrungsaufnahme verweigert, kommt es zu einer Gewichtsabnahme oder einer Unterversorgung des Organismus, benötigt der Betroffene ärztliche Hilfe. Störungen des Würgereflexes oder Unregelmäßigkeiten bei der Atemtätigkeit sind untersuchen und behandeln zu lassen.
Zeichnet sich über mehrere Wochen oder Monate eine langsame Zunahme der Beschwerden ab, muss ein Arzt konsultiert werden. In schweren Fällen kann aufgrund der Beeinträchtigungen keine Nahrung mehr aufgenommen werden. Damit besteht ein lebensbedrohlicher Zustand für den Betroffenen. Damit frühzeitig eine Diagnosestellung ermöglicht wird, sollte bereits bei den ersten Anzeichen ein Arztbesuch erfolgen.
Verschluckt sich der Betroffene wiederholt oder entwickelt sich eine Angst vor dem Ersticken, ist ein Arzt zu konsultieren. Hyperventilation, ein Verlust der Muskelkraft und Lähmungserscheinungen sind schnellstmöglich einem Arzt vorzustellen. Verändert sich die Sprachgebung, zeigt sich ein Rückzugsverhalten des Betroffenen oder sinkt die Leistungsfähigkeit, benötigt der Betroffene Hilfe. Eine undeutliche Sprache oder eine Verweigerung des Sprechens bei Kindern sind als Warnhinweise zu betrachten. Stellt sich trotz eines verständnisvollen Umfeldes keine Veränderung ein, wird ein Arzt benötigt. Bei einer Mangelerscheinung, einer inneren Trockenheit und bei Problemen der Zahnreinigung ist ein Arzt aufzusuchen.
Behandlung & Therapie
Eine kausale Therapie steht für Patienten der progressiven Bulbärparalyse bislang genauso wenig zur Verfügung wie für Patienten der ALS. Aus diesem Grund findet eine rein symptomatische Behandlung statt, die vor allem aus einer Aspirationsprophylaxe und eine Speichelreduktion besteht. Die Ernährung erfolgt mittels Sonden, um die Aspiration von Nahrungsbestandteilen auszuschließen.
Die meisten Patienten leiden an einer Hypersalivation. Den Speichel können sie bei fortschreitender Symptomatik nicht mehr schlucken und verschlucken sich. Die konservative Therapie dieser Symptomatik besteht in der Gabe von anticholinerg wirksamen Medikamenten, so zum Beispiel Amitriptylin oder Methionin. Alternativ dazu kann eine Injektion von Botox erfolgen, die die Speicheldrüsen lähmt.
Da viele Betroffenen an Angstzuständen leiden, kommt auch die Gabe von schnell wirksamen Benzodiazepinen als Bestandteil der Therapie infrage. Meist werden diese Medikamente als Tropfen verabreicht, da die Patienten nicht mehr schlucken können. Einer der wichtigsten Behandlungsbestandteile ist die psychologische Betreuung von Patienten und ihren Angehörigen.
Da gerade Betroffene der Erwachsenenform das Fortschreiten der Erkrankung bei vollem Bewusstsein miterleben müssen, soll die Psychotherapie die Patienten zur Verarbeitung und einem besseren Umgang mit der Erkrankung befähigen. Seit 1996 ist zur Verzögerung von ALS der Glutamat-Antagonist Riluzol zugelassen. Ob dieses Medikament auch das Fortschreiten der progressiven Bulbärparalyse verzögern kann, ist nicht geklärt.
ALS wird in den USA mittlerweile außerdem mittels Stammzelltherapie behandelt. In Deutschland ist diese Therapie nicht zugelassen. Darüber hinaus gilt die Wirksamkeit der Therapie bei der progressiven Bulbärparalyse nicht als bestätigt.
Vorbeugung
Der progressiven Bulbärparalyse lässt sich zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht vorbeugen, da die Ursachen der Erkrankung bislang nicht abschließend geklärt werden konnten.
Nachsorge
Bei der progressiven Bulbärparalyse handelt es sich um eine aktuell unheilbare Krankheit, sodass die Nachsorge sehr eingeschränkt ist. Vor allem geht es hier um eine Reduzierung der Beschwerden mithilfe einer symptomatische Nachsorge. Da bei dieser Krankheit das Risiko einer fortschreitenden Dysphagie (Schluckstörung) hoch ist, gilt es diese zu beobachten.
Zudem besteht ein hohes Risiko des Einatmens von Nahrungsmitteln und eines möglichen Erstickens oder Entzündung der Atemwege. Hier wird der Patient prophylaktisch meist über Sonden ernährt. Weiterhin wird die Hypersalivation, eine erhöhte Speichelproduktion, versucht zu reduzieren. Dies erfolgt meist durch die Gabe von Medikamenten wie Amitriptylin oder Methionin. Eine weitere Alternative sind auch Botoxinjektionen in die Speicheldrüsen.
Auch die psychologische Betreuung ist wichtig, da betroffene Personen oftmals unter Depressionen oder Angstzuständen leiden. In einigen Fällen ist auch eine zusätzliche Medikation notwendig. Nach der Erkrankung mit progressiver Bulbärparalyse sind regelmäßige Untersuchungen ratsam, um das Fortschreiten der Krankheit zu beobachten und Medikamente gegebenenfalls anzupassen.
Die progressive Bulbärparalyse hat eine schlechte Prognose. Das schnelle Fortschreiten der Krankheit bis hin zum Tod kann nur bei einem Drittel der Patienten verzögert werden. Es gibt bereits verschiedene Therapieansätze, wie zum Beispiel Stammzelltherapie, die sich aber noch in der Testphase befinden.
Das können Sie selbst tun
Die Möglichkeiten der Selbsthilfe sind bei der progressiven Bulbärparalyse sehr eingeschränkt. Die Erkrankung hat eine ungünstige Prognose und einen schwierigen Krankheitsverlauf. Im Alltag ist es wichtig, dass der Patient eng mit dem Ärzte-und Pflegeteam zusammenarbeitet. Er sollte sich unmittelbar nach der Diagnosestellung umfassend über die Erkrankung und die weitere Entwicklung informieren. Die Umstrukturierung des Alltags und die Organisation einer ausreichenden Versorgung sind lebensnotwendig. Sie sollten rechtzeitig erfolgen, damit zusätzliche Komplikationen vermieden werden.
Um die Widrigkeiten der Erkrankung gut handhaben zu können, ist es notwendig dass eine mentale Stärkung stattfindet. Neben der Nutzung von verschiedenen Entspannungsverfahren sowie Mentaltechniken, ist eine psychotherapeutische Begleitung anzuraten. Die Lebensfreude und das Wohlbefinden sind zu fördern. Der Umgang mit der Erkrankung muss erlernt werden. Darüber hinaus psychischen Erkrankungen vorzubeugen.
Hilfreich und förderlich kann der Austausch mit anderen Betroffenen sein. Über Selbsthilfegruppen oder in geschlossenen Internetforen bietet sich eine Möglichkeit der Kommunikation mit anderen Erkrankten. Die gegenseitige Hilfe zur Selbsthilfe wird dort gelebt.
Da die progressive Bulbärparalyse eine starke Belastung für Angehörige darstellt, sind auch die dieser rechtzeitig umfassend über die weiteren Entwicklungen zu informieren. Der Zusammenhalt innerhalb einer Familie ist wichtig für die Aufrechterhaltung der Gesundheit des Patienten und sollte gepflegt werden.
Quellen
- Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
- Grehl, H., Reinhardt, F.: Checkliste Neurologie. Thieme, Stuttgart 2012
- Masuhr K., Masuhr, F., Neumann, M.: Duale Reihe Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013