Tibiale Hemimelie
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 12. November 2021Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Bei einer Tibialen Hemimelie handelt es sich um das angeborene Fehlen oder die Unterentwicklung des Schienbeins (medizinische Bezeichnung Tibia). Die Erkrankung wird auch als Tibialer Längsdefekt bezeichnet. Eine Tibiale Hemimelie kann isoliert auftreten, oftmals kommt sie jedoch in Kombination mit Fehlbildungen des Fußes oder einer sogenannten Varusstellung im Rückfuß vor.
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Was ist eine Tibiale Hemimelie?
Die Tibiale Hemimelie stellt eine extrem seltene Erkrankung dar und tritt lediglich bei einem von einer Million neugeborener Kinder auf.
Die im Rahmen der Tibialen Hemimelie auftretende angeborene Fehlbildung zeichnet sich durch ein unvollständiges Schienbein bei einem relativ intakten Wadenknochen (medizinische Bezeichnung Fibula) aus.
Eine Tibiale Hemimelie kann sowohl einseitig als auch beidseitig vorkommen. Dabei handelt es sich entweder um eine isolierte Anomalie oder einen Teil eines komplexeren Syndroms von Fehlbildungen.
Dabei kommen beispielsweise der sogenannte Gollop-Wolfgang-Komplex oder das Dreigliedriger-Daumen-Polysyndaktylie-Syndrom vor.
Ursachen
Dabei wurden teilweise vererbbare Fälle beschrieben, wobei eine genetische Analyse empfohlen wurde. In den meisten Fällen tritt die Erkrankung sporadisch auf. In jenen Fällen, in denen eine familiäre Vererbung vermutet wurde, wurde auf einen autosomal-dominanten oder autosomal-rezessiven Vorgang der Vererbung geschlussfolgert. Neben einer Vererbung der Tibialen Hemimelie stehen auch weitere Ursachen, etwa in Form externer Einflüsse in verschiedenen Phasen des Wachstums der betroffenen Knochen zur Diskussion.
Symptome, Beschwerden & Anzeichen
Im Rahmen einer Tibialen Hemimelie können verschiedene Symptome und Beschwerden bei den von der Erkrankung betroffenen Patienten in Erscheinung treten. Lediglich bei der Hälfte der erkrankten Person ist der Fuß des betroffenen Beins normal angelegt. Im überwiegenden Teil der Fälle hingegen fehlen die medialen Strahlen des Fußes.
Dabei zeigt sich, dass die Knochenkerne des betroffenen Rückfußes fusioniert sind. Darüber hinaus können in Verbindung mit einer Tibialen Hemimelie diverse weitere Fehlbildungen auftreten, die sich bei den betroffenen Personen gehäuft zeigen. Dazu zählen zum Beispiel eine kongenitale Missbildung der Hände (Syndaktylie) sowie eine abnorme Anzahl der Gliedmaßen an Händen und Füßen beziehungsweise eine sogenannte Vielfingerigkeit (Polydaktylie).
Zudem kann die Tibiale Hemimelie mit einer Lageanomalie des Hodens (Kryptorchismus) sowie einer Femurhypoplasie assoziiert sein. Die Tibiale Hemimelie kann im Rahmen weiterer Fehlbildungs-Syndrome auftreten. In Anhängigkeit der Ausprägung der Tibialen Hemimelie kann eine Kniebeugekontraktur sowie eine verminderte Aktivität der Streckmuskulatur des Oberschenkels bestehen.
Diagnose & Krankheitsverlauf
Im Hinblick auf die Diagnose der Tibialen Hemimelie stehen diverse Methoden der Untersuchung zur Auswahl. Der behandelnde Arzt wählt diese in Abhängigkeit des individuellen Einzelfalls aus und versucht nach Möglichkeit, unnötige und belastende Diagnosemaßnahmen zu vermeiden. Die für die Erkrankung typische Fehlbildung des Schienbeinknochens kann schon im Mutterleib im Zuge einer Ultraschalluntersuchung des Embryos erkannt werden.
Spätestens nach der Geburt zeigen sich die Verkürzung und Fehlstellung des Scheinbeinknochens deutlich. Im Rahmen von Röntgenuntersuchungen können das Ausmaß der Missbildung und besondere knöcherne Veränderungen festgestellt werden. Mittels sonographischer Untersuchungen können die knorpeligen Anlagen sowie ihre Position und Stellung zum Gelenk dargestellt werden. Die Diagnose einer Tibialen Hemimelie muss in jeden Fall mittels klinischer und radiologischer Befunde gesichert werden.
Oftmals tritt die Tibiale Hemimelie mit bestimmten weiteren Fehlbildungen auf, besonders solchen am Fuß. Hierbei kommen die Erkrankungen Pes equinovarus und eine partielle Duplikation eines Fußes gehäuft vor, die eine chirurgische Korrektur erfordern. Zudem sind für optimale funktionelle Ergebnisse operative Rekonstruktionen sowie an das individuelle Wachstum angepasste Prothesen erforderlich.
Besondere Relevanz bei der Feststellung einer Tibialen Hemimelie hat auch die Durchführung einer Differentialdiagnose. Insbesondere muss die Tibiale Hemimelie vom Eaton-McKusick-Syndrom abgegrenzt werden, das durch Mehrfachbildungen der großen Zehen, triphalangaealen Daumen und sechsfingrigen Händen charakterisiert ist.
Komplikationen
Eine Tibiale Hemimelie kann eine Reihe von Beschwerden und Komplikationen nach sich ziehen. Typisch sind zum Beispiel starke Fehlbildungen im Bereich der Füße und des Schienbeins. Zumeist kommt es in Folge dieser Missbildungen zu Einschränkungen der Bewegung und ästhetischen Makeln. Auch Beschwerden am Herz und an den Nieren können auftreten.
Bei einem schweren Verlauf – wenn beispielsweise eine Niereninsuffizienz auftritt – können diese Beschwerden tödlich enden. Gelegentlich treten außerdem Entwicklungsstörungen auf, die mit einer verringerten Intelligenz vergesellschaftet sind. Viele Betroffene entwickeln aufgrund der Fehlbildungen und geistigen Einschränkungen Minderwertigkeitskomplexe und leiden unter einem verringerten Selbstwertgefühl. Auch zu Depressionen kann es kommen. Bei der Behandlung gehen die Risiken hauptsächlich von einer Amputation aus.
Die Entfernung eines Körperteils kann zu einem plötzlichen Blutdruckabfall und Infektionen führen. Nach dem Eingriff treten mitunter Wundheilstörungen und Phantomschmerzen auf. Stellt sich aufgrund von fehlenden Gliedmaßen eine Fehl- oder Überlastung der Gelenke ein, kann dies Komplikationen wie Gelenkverschleiß, Entzündungen und Frakturen bedingen. Manchmal haben die Betroffenen zudem Probleme bei der Nutzung der Prothese oder leiden psychisch unter den körperlichen Einschränkungen.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Bei dieser Erkrankung ist der Patient auf eine medizinische Untersuchung und Behandlung angewiesen, damit weitere Komplikationen verhindert werden. Nur durch eine frühzeitige Diagnose durch einen Arzt kann auch eine Verschlechterung der Beschwerden verhindert werden, sodass der Arzt schon bei den ersten Anzeichen und Symptomen der Krankheit aufgesucht werden sollte. Allerdings kann die Krankheit nicht vollständig behandelt werden, da es sich dabei um eine angeborene Krankheit handelt. Sollte es beim Betroffenen zu einem Kinderwunsch kommen, so sollte eine genetische Beratung durchgeführt werden. Ein Arzt ist bei dieser Krankheit dann zu konsultieren, wenn der Betroffene verschiedene Fehlbildungen aufweist.
Diese können dabei den gesamten Körper betreffen und verringern deutlich die Lebensqualität. In vielen Fällen treten die Missbildungen an den Händen oder an den Füßen des Betroffenen auf, sodass es auch zu deutlichen Einschränkungen im Alltag kommt. Bei diesen Beschwerden sollte immer ein Arzt konsultiert werden.
In der Regel kann die Krankheit durch einen Kinderarzt oder durch einen Allgemeinarzt erkannt werden. Die weitere Behandlung richtet sich nach der Art und nach der Ausprägung der Fehlbildungen und wird dann von einem Facharzt durchgeführt. Da es durch diese Krankheit auch zu Depressionen kommen kann, sollte auch ein Psychologe aufgesucht werden.
Behandlung & Therapie
Für die Behandlung der Tibialen Hemimelie kommen diverse therapeutische Methoden und Maßnahmen in Betracht, die an das jeweilige Krankheitsbild des betroffenen Patienten angepasst werden. Im Rahmen der Therapie der Tibialen Hemimelie erfolgt zunächst eine Klassifikation der Erkrankung in drei Typen. Typ I ist durch das Fehlen des Schienbeins gekennzeichnet. Hier erfolgt die Behandlung üblicherweise mittels Orthese.
Zudem kann bei einer guten Oberschenkelfunktion das Wadenbein operativ unter den sogenannten Femurknochen unterstellt werden. Bei Typ II fehlt das Schienbein lediglich distal. Im Rahmen der Therapie wird zur Stabilisierung des Kniegelenkes eine Verbindung zwischen dem distalen Teil des Scheinbeins und dem Wadenbein hergestellt. Typ III ist durch eine Fehlbildung des distalen Schienbeins mit einer Fehlanlage der Sprunggelenksgabel gekennzeichnet. In diesem Fall sollte im Rahmen einer Operation ein funktionelles Sprunggelenk geschaffen werden.
Vorbeugung
Wirksame Maßnahmen zur Prävention einer Tibialen Hemimelie sind derzeit nicht bekannt, da die Erkrankung in den meisten Fällen angeboren ist. Umso wichtiger ist eine frühzeitige Behandlung, die möglichst in einem kinderorthopädischen Zentrum erfolgen und sich nach dem jeweiligen Typ der Tibialen Hemimelie richten sollte.
Das können Sie selbst tun
Patienten mit einer Tibialen Hemimelie sind oftmals stark in ihrer Mobilität eingeschränkt, da sie an einer Deformation der Tibia leiden. Daraus ergeben sich diverse Einschränkungen im alltäglichen Leben, die jedoch nicht zwangsläufig zu einer herabgesetzten Lebensqualität führen müssen.
Da es sich bei der Tibialen Hemimelie um eine angeborene Erkrankung handelt, lernen die Betroffenen oft frühzeitig, mit den Einschränkungen umzugehen. Regelmäßige ärztliche Kontrolltermine und Untersuchungen bei diversen Fachärzten sind unerlässlich, um den aktuellen Zustand der Deformation zu untersuchen. Insbesondere bis zum Erreichen des Erwachsenenalters müssen die Patienten zahlreiche Arzttermine wahrnehmen. Hinzu kommt meist eine Physiotherapie, die die Muskeln kräftigt und die Bewegungsfähigkeit erhöht. Somit profitieren die Patienten bestenfalls auch von positiven Auswirkungen auf ihre Selbstständigkeit. Die vom Therapeuten vermittelten Übungen führen die Betroffenen möglichst auch zu Hause durch und fördern dadurch die eigene Mobilität und Muskelkraft.
Menschen mit Tibialer Hemimelie haben zwar eine begrenzte Auswahl an Berufen, die für sie in Frage kommen. Innerhalb dieses Spektrums stehen ihnen dennoch zahlreiche Auswahlmöglichkeiten offen. Üblicherweise üben Patienten mit Tibialer Hemimelie Arbeitstätigkeiten aus, die im Sitzen ausführbar sind. Der Besuch von Selbsthilfegruppen kann dabei helfen, das eigene Wohlbefinden trotz der Erkrankung zu steigern.
Quellen
- Breusch, S., Clarius, M., Mau, H., Sabo, D. (Hrsg.): Klinikleitfaden Orthopädie, Unfallchirurgie. Urban & Fischer, München 2013
- Niethard, F., Pfeil, J., Biberthaler, P.: Orthopädie und Unfallchirurgie. Thieme, Stuttgart 2014
- Wülker, N., Kluba, T., Roetman, B., Rudert, M.: Taschenlehrbuch Orthopädie und Unfallchirurgie. Thieme, Stuttgart 2015