Protopathische Sensibilität

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 14. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Als protopathische Sensibilität wird die Grobwahrnehmung als Sinnesqualität der Haut bezeichnet, die Bedrohungen der Vitalsphäre erkennt. Neben Schmerz und Temperatur nimmt der Mensch so mechanische Reize wahr, die über den Tractus spinothalamicus ins Zentrale Nervensystem wandern. Assoziierte Beschwerden gehen oft aus Multiple Sklerose zurück.

Inhaltsverzeichnis

Was ist die protopathische Sensibilität?

Als protopathische Sensibilität wird die Grobwahrnehmung als Sinnesqualität der Haut bezeichnet, die Bedrohungen der Vitalsphäre erkennt. Neben Schmerz und Temperatur nimmt der Mensch so mechanische Reize wahr.

Die Sensibilität lässt sich nach der Art des Reizes, nach dem Ort der Erregung, der zentripetalen Weiterleitung und der Verschaltung in verschiedene Kernareale weiter untergliedern. Die letztgenannte Gruppe umfasst die protopathische, die epikritische und die propriozeptive Sensibilität.

Die protopathische Sensibilität ist auch als Grobwahrnehmung bekannt und umgreift alle Hautsinneswahrnehmungen, die eine Bedrohung der Vitalsphäre erkennen lassen. Hierzu zählen die Nozizeption, die Thermorezeption und die gröbere Mechanorezeption. Die Nozizeption entspricht der Schmerzwahrnehmung, die Thermorezeption der Temperaturwahrnehmung und die Mechanorezeption der Wahrnehmung von mechanischen Reizen wie Druck.

Die beteiligten Sinneszellen der Haut sind entweder Nozizeptoren, Mechanorezeptoren oder Thermorezeptoren. Diese Sinneszellen sind offene Nervenenden, die einen Reiz aufnehmen und in bioelektrische Erregung umwandeln. Sie übersetzen die Bedrohung der Vitalsphäre in die Sprache des zentralen Nervensystems. Die Rezeptoren bilden erst dann ein Aktionspotenzial, wenn eine bestimmte Reizschwelle überschritten ist.

Funktion & Aufgabe

Der Hautsinn oder Tastsinn ist einer von fünf Sinnessystemen im menschlichen Organismus. Dank der Haut sind Menschen für äußere Reize wie Druck, Berührung, Temperatur und Schmerzen empfänglich. Im Zusammenhang mit der Haut werden aktive und passive Sinnesqualitäten unterschieden. Die aktiven Qualitäten spielen für das Tasten eine Rolle und werden als Tastsinn bezeichnet. Die passiven Qualitäten laufen unter dem Begriff des Taktilen.

Neben der Feinwahrnehmung ist die Haut zur Grobwahrnehmung in der Lage. Die Feinwahrnehmung entspricht der Tastschärfe und damit der epikritischen Sensibilität, wie sie für die aktiven Zuständigkeiten des Hautsinns entscheidend ist. Die Grobwahrnehmung der Haut lässt das menschliche Gehirn dagegen die Bedrohung der eigenen Vitalsphäre erkennen und spielt für die passiven Qualitäten des Systems eine Rolle.

Schmerzen, Temperaturen und mechanische Reize können bis zu einer gewissen Schwelle toleriert werden. Der Körper erkennt sie oberhalb dieser Schwelle als klare Bedrohung. Die Weiterleitung aller protopathischen Informationen erledigt dann der Tractus spinothalamicus. Die Faserbündel dieses afferenten Nervs entsprechen dem Tractus spinothalamicus lateralis für Schmerzwahrnehmung und Temperaturwahrnehmung und dem Tractus spinothalamicus anterior für die Wahrnehmung grober Berührungsimpressionen und Tasteindrücke.

Die Afferenzen des Tractus spinothalamicus kreuzen unmittelbar nach Eintritt ins Rückenmark die Commissura alba anterior und verlagern sich auf die kontralaterale Seite. Protopathische Eindrücke sind polyneuronal verschalten. Das erste Neuron der Verschaltung liegt im Spinalganglion. Das zweite Neuron befindet sich im Hinterhorn des Rückenmarks. Unmittelbar nach der Umschaltung vom ersten auf das zweite Neuron kreuzt die Afferenz auf die kontralaterale Seite. Auf dieser Seite läuft die Bahn des Vorderseitenstrangs bis in den Hirnstamm hinein.

Als Lemniscus spinalis zieht sich die Bahn zum Thalamus weiter. In dessen Nucleus ventralis posterolateralis findet die Umschaltung auf das dritte Neuron statt. Die Axone dieses dritten Neurons ziehen sich durch die Capsula interna bis in die Großhirnrinde (Cortex cerebri). Im sensorischen Cortex (Gyrus postcentralis) erfolgt eine vierte Umschaltung, die der bewussten Wahrnehmung dient.

Bei weitem nicht jede protopathische Information wird bewusst wahrgenommen. Das Gehirn würde durch die Reizüberflutung überlasten. Wohl daher generieren die protopathischen Rezeptoren erst ab einer bestimmten Schwelle ein Aktionspotenzial zur Weiterleitung ans Bewusstsein.


Krankheiten & Beschwerden

Mit Läsionen der protopathischen Bahnen beschäftigt sich die Neurologie. In den meisten Fällen handelt es sich um Läsionen des lateralen und anterioren Tractus spinothalamicus. Isolierte Läsion der anterioren oder lateralen Bahnen sind wegen der räumlich engen Beziehung beinahe unmöglich. Falls eine der Bahnen beschädigt wird, fallen fast immer sämtliche Eindrücke der protopathischen Wahrnehmung aus. In Einzelfällen sind die Wahrnehmungen lediglich stark eingeschränkt. Die Position der Läsion kann auf beliebiger Höhe zwischen dem ersten und vierten Neuron liegen.

Unabhängig davon lassen sich die Ausfälle der protopathischen Wahrnehmung ausschließlich auf der zugeordneten Körperseite des ersten Neurons ausmachen. Die Tastsinneseindrücke sind bei Läsionen dieses Typs nicht zwingend beeinträchtigt. Obwohl die übergeordnete Instanz des Hautsinnes sowohl zum aktiven Tasten, als auch zur passiven Empfindung von Eindrücken in der Lage ist, können sich Läsionen des Hautsinnes abhängig von ihrer Lokalisation im zentralen Nervensystem also unterscheiden.

Die aktiven Wahrnehmungsqualitäten der Haut entsprechen der epikritischen Sensibilität. Diese Feinwahrnehmung ist auf andere Weise verschaltet als die protopathische Sensibilität. In Einzelfällen können Läsionen trotzdem beide Sinnesqualitäten beeinträchtigen.

Eine Erkrankung mit sowohl protopathischen, als auch epikritischen Läsionen ist Multiple Sklerose (MS). Die Autoimmunerkrankung ruft immunologisch bedingte Entzündungen in zentralem Nervengewebe hervor und kann bleibenden Schaden hinterlassen. Protopathische Missempfindungen sind ein häufiges Frühsymptom der Erkrankung. So kann ein MS-Patient beispielsweise kaltes Wasser als brühend heiß wahrnehmen und dasselbe kann umgekehrt gelten. Einfachste Berührungen können nach MS-bedingten Läsionen im zentralen Nervensystem als schmerzhaft empfunden werden. Auch ein Schweregefühl der Glieder ist in Zusammenhang mit der propriozeptiven Wahrnehmung vorstellbar.

MS ist nicht die einzige neurologische Erkrankung mit Auswirkungen auf die protopathische Wahrnehmung. Nichtsdestotrotz handelt es sich um eine der häufigsten Erkrankungen mit protopathischer Beeinträchtigung.

Quellen

  • Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
  • Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2016
  • Mattle, H., Mumenthaler, M.: Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013

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