Reizüberflutung
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 11. November 2020Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Alle Reize, die von unseren Wahrnehmungsorganen aufgenommen werden, gelangen über die Nervenbahnen direkt in unser Gehirn. Im zentralen Nervensystem kommt dem Gehirn damit die wichtigste Aufgabe zu. Alle ankommenden Reize werden hier weiter verarbeitet und beantwortet. Rezeptoren in den verschiedenen Wahrnehmungsbereichen nehmen Reize auf und senden sie auf elektrochemischem Weg direkt zum Gehirn. Von hier aus werden sie weiter verabeitet oder geben neue Reize an Muskeln oder Drüsen ab.
Zu einer Reizüberflutung kommt es immer dann, wenn die ankommenden Reize im Gehirn nicht mehr weiter verarbeitet werden können.
Inhaltsverzeichnis |
Was ist Reizüberflutung?
Für die Aufnahme von Reizen aus der Umwelt stehen uns Menschen verschiedene Sinne zur Verfügung:
- auditive Wahrnehmung (hören)
- olfaktorische Wahrnehmung (riechen)
- gustatorische Wahrnehmung (schmecken)
- visuelle Wahrnehmung (sehen)
- taktile Wahrnehmung (tasten)
- Thermorezeption (Temperatursinn)
- Nozizeption (Schmerzempfindung)
- vestibuläre Wahrnehmung (Gleichgewicht)
- Propriozeption (Körperempfinden)
Immer dann, wenn der Körper mehr Reize über all diese oben beschriebenen Wahrnehmungsorgane aufnimmt, als er verarbeiten und weiterleiten kann, kommt es zu einer Reizüberflutung. Diese Überflutung führt zwangsläufig zu einer psychischen und physischen Überforderung. Je nachdem ob diese Reizüberflutung von kurzer oder von langer Dauer ist, zeigen sich unterschiedliche körperliche Symptome.
Die Verarbeitungsgrenze oder auch "Schmerzgrenze" für Reize ist ebenso individuell wie jeder Mensch. Reizüberflutung ist also einmal abhängig von der Quantität der ankommenden Reize und auch von der eigenen körperlichen Konstitution. Jemand, der eine sensiblere und feinere Wahrnehmung hat, wird also eher in den Zustand der Reizüberflutung kommen (hochsensible Persönlichkeit).
Ursachen
Die permanente Überforderung von Nervenzellen und Gehirn versetzt den Körper in einen Stress-Zustand.
Noradrenalin als wichtigster anregender Botenstoff (Neurotransmitter) steuert in diesem Fall die Reaktionskette der Stresshormone und weiterer wichtiger Botenstoffe wie zum Beispiel Serotonin, Melatonin, Cortisol etc.. Er dient dazu, den Körper bei Belastung zu aktivieren und körperliche Funktionen anzupassen.
Im Falle der Reizüberflutung nimmt jedoch der Stress zu und die Reaktionskette der wichtigen Stresshormone kommt aus der Balance und der damit verbundene Überschuss an Noradrenalin führt zu folgenreichen Gesundheitsstörungen des menschlichen Organismus.
Diese Gesundheitsstörungen beginnen sehr leise und manchmal für den Patienten zunächst nicht erkennbar. Und doch steigern sie sich in ihrer Intensität, wenn die Ursache nicht möglichst schnell erkannt und durchbrochen wird. Wie bei einer Lawine, löst ein kleines Steinchen, welches sich talabwärts bewegt, weitere immer größer werdende Steine aus, die mit aller Macht zu Tal gehen.
Symptome, Beschwerden und Anzeichen
Die Reizüberflutung zeigt sich in sehr individuellen psychichen und physischen Symptomen, die alle ursächlich eine Gemeinsamkeit haben: Die Mehrausschüttung von Neurotransmittern, die in ihrer Funktion und Wirkweise aus der natürlichen Balance geraten und gestört sind.
Zur Erinnerung: Die Reizaufnahme und Reizweiterleitung ist ein biochemischer Prozess, der durch diverse Neurotransmitter geregelt wird. Neurotransmitter sind Botenstoffe, die die Erregung bzw. den Reiz von einer Nervenzelle (Synapse) zur anderen Nervenzelle übertragen beziehungsweise übermitteln.
Serotonin ist einer der wichtigsten Botenstoffe bei der Verarbeitung von Reizen. Serotonin beeinflusst das Schmerzempfinden, den Wach- und Schlafrhythmus sowie den Gemütszustand. Bei einer zu geringen Konzentration von Serotonin im Körper kann es zu psychischen Erkrankungen wie zum Beispiel depressiven Episoden, Angst und Aggression kommen.
An diesem Beispiel wird recht schnell deutlich, wie fein und zugleich wirkungsvoll verschobene Neurotransmitter durch eine Reizüberflutung des Gehirns wirken. Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsabfall, Schlafstörungen, Schlaflosigkeit, chronischen Erschöpfungszuständen, dem Burnout-Syndrom, chronischen Schmerzzuständen, Migräne, Tinnitus, Psychosen und Depressionen sind ernst zu nehmende Symptome und sollten als Beschwerdebild unbedingt behandelt werden.
Komplikationen
Wenn eine Reizüberflutung lange unerkannt bleibt und damit das biochemische Gleichgewicht des Körpers längere Zeit verschoben ist, können schwer auszugleichende Schäden entsstehen. Deshalb ist es dringend zu empfehlen, schon bei den ersten Anzeichen von Konzentrationsschwierigkeiten, Leistungsabfall oder auch Schlafproblemen wirklich differenziert Ursachenforschung zu betreiben und eine ganzheitliche Behandlung einzuleiten.
Im Frühstadium erkannt, können die notwendigen Maßnahmen ergriffen werden und die Abwärtsspirale aufgehalten werden. Bei länger anhaltenden Schmerzzuständen, Tinnitus oder depressiven Episoden, die allemal Anzeichen für eine längere Phase der Reizüberflutung sind, kann es schnell zu ernsthaften Komplikationen kommen. Das biochemische Gleichgewicht des Körpers ist schon zu lange aus der Balance gekommen, der Körper zeigt Symptome auf, die nur mit viel Zeit und der richtigen Medikation wieder zu heilen sind.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Es ist sinnvoll, bei den ersten physischen und psychischen Veränderungen zum Arzt zu gehen und Ursachenforschung zu betreiben. Eine Migräne zum Beispiel kann verschiedene Ursachen haben. Ob als Auslöser für Migräneattacken eine Reizüberflutung in Frage kommt, muss, auch im Rahmen der Therapie, abgeklärt werden.
Ebenso ist ein Tinnitus , im Anfang erkannt und behandelt, durchaus heilbar. Ein Tinnitus, der längere Zeit unbehandelt bleibt, kann sehr schnell chronisch werden. Auch Schlafstörungen oder Schmerzzustände schwächen den Körper schon nach kurzer Zeit und führen zu sekundären Erkrankungen, deren Heilung entsprechend Zeit benötigt. Die Reihe könnte so fort gesetzt werden. Ein für alle mal gilt die goldene Regel:
Ein Arztbesuch ist erforderlich, wenn der Körper Veränderungen zeigt, die unbekannt sind und den Alltag einschränken. Ein Besuch beim Arzt kann auch vorbeugend gesehen werden und damit schwerere Erkrankungen eindämmen oder gar ausschließen.
Der Weg sollte zunächst zum Hausarzt führen, der erste Check - ups erledigen kann. Für differenziertere Untersuchungen ist das Mittel der ersten Wahl immer ein Facharzt. Dieser sollte in engem Kontakt mit dem Hausarzt bleiben und so für eine engmaschige Versorgung sorgen.
HNO-Fachärzte, Endokrinologen, Phoneater, Gastroenterologen,Fachärzte für Biochemie, Fachärzte für Frauenheilkunde, Fachärzte für innere Medizin, Fachärzte für Psychiatrie, Fachärzte für Neurologie, Fachärzte für psychosomatische Medizin sind je nach Symptomatik diejenigen, die differenzierter untersuchen und behandeln können.
Diagnose
Bei der Erkrankung der Reizüberflutung ist die klassische Ausschlußdiagnose aufgezeigt. Im schrittweisen Ausschluß aller möglichen anderen Erkrankungen mit ähnlichen Symptomen bleibt am Ende eine letzte Diagnose übrig. Die Symptome bei der Reizüberflutung sind vielen anderen Erkrankungen ähnlich, dass dieser Weg der Diagnose gegangen werden muss. Sicherlich benötigt die klassische Ausschlußdiagnose mehr Zeit und Geduld beim Patienten. Und doch ermöglicht sie Behandlungskonzepte, die auf die Ursachen der Reizüberflutung zugeschnitten sind und so ursächlich wirken können.
Behandlung & Therapie
In der Behandlung sollte ganzheitlich angesetzt werden und verschiedene Therapien sollten nebeneinander greifen können. So ist es sinnvoll, neben der Medikation mit bestimmten Neurotransmittern, wie zum Beispiel Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmern (SSRI oder Antidepressiva genannt) oder Melatonin, zur Unterstützung des Schlafrhythmus auch verhaltenstherapeutisch zu behandeln.
Nur eine Veränderung im Verhalten und der Ursachenforschung, warum Stress entsteht kann langfristig zu einer Verbesserung führen. Auch der Einsatz pflanzlicher Mittel gegen depressive Verstimmungen oder Schlafstörungen, unterstützt mit Massagen kann ein sehr gutes Mittel er ersten Wahl sein, wenn die Reizüberflutung noch im Anfangsstadium steht.
Akupressur und Akupunktur unterstützen ganzheitlich die Erholung dse Körpers und unterstützen ohne Nebenwirkungen. Entspannungstechniken wie Yoga, Progressive Muskelentspannung oder autogenes Training helfen, Reizen anders zu begegnen und die Überflutung zu minimieren.
Aussicht & Prognose
Eine Aussicht auf Heilung ist absolut möglich. Wenn eine Reizüberflutung diagnostiziert wird, kann - je nach Stadium der Erkrankung - kurz oder langfristig geholfen werden und eine Verbesserung eintreten.
Je eher die ersten Anzeichen vom Patienten wahr genommen werden, er zum Arzt geht und die Therapie beginnt, umso eher wird er wieder gesund. Der positive Nebeneffekt ist dabei, seinen Körper bewußter wahrzunehmen und in Zukunft immer wieder frühzeitig bei ersten Krankheitssymptomen reagieren zu können. Das Selbstwertgefühl bekommt also noch zusätzlich Kraft und Stärke. Nach überstandener Erkrankung verändert sich demzufolge die Persönlichkeit positiv.
Ohne Behandlung kann es schnell zu einer gefährlichen Abwärtsspirale kommen, an dessen Ende möglicherweise auch als Endlösung ein Suizid stehen kann. Es geht hier auf keinen Fall um Panikmache, sondern einzig und allein um den Hinweis, was alles passieren kann, wenn der Körper ohne Hilfe lange Zeit einer ständigen Reizüberflutung ausgesetzt ist.
Wenn die körperlichen Beschwerden, die durch eine immanente Reizüberflutung ausgelöst werden, so stark sind, dass sie den Alltag des Patienten massiv einschränken, kommt es unweigerlich zu einer Hoffnungslosigkeit.
Eine Hoffnungslosigkeit, die gequält durch Selbstmordgedanken zum Freitod führen kann. (Achtung: Wenn Sie in letzter Zeit öfter daran denken, Selbstmord begehen zu wollen oder wenn Sie einen Menschen kennen, bei dem Sie Suizidgedanken vermuten, sollten Sie Hilfe holen.)
In Phasen des hormonellen Umbruchs, wie Pubertät, Schwangerschaft und Wechseljahre, sind Frauen in der Regel eher gefährdet als Männer. Das zentrale Nervensystem, welches Umschaltplatz für die Reizverarbeitung ist, wird maßgeblich durch Neurotransmitter und Hormone gesteuert. In den hormonellen Umbruchphasen, in denen die Hormone der Frau vielen Schwankungen unterliegen, kann es daher schneller zu einer Reizüberflutung kommen.
Vorbeugung
Eine Vorbeugung der Reizüberflutung ist in unserem Zeitalter, in dem wir Reizen sekündlich ausgesetzt sind, sicherlich ein schwieriges Unterfangen. Und doch ist es möglich! Es bedarf einem hohen Maß an Selbstreflexion für die persönlichen Anforderungen und für das individuelle Körpergefühl.
Nur wenn ich bewusst wahrnehme, welche Anforderungen in meinem beruflichen und privaten Umfeld an mich gestellt sind, kann ich agieren und etwas verändern. Nur wenn ich meinen Körper gut kenne, in mich hineinhören kann und erste Anzeichen der Reizüberflutung bemerke, kann ich mit Hilfe von Fachleuten etwas ändern.
Auch ist es möglich, die vielen Reize mit bestimmten Techniken so zu selektieren, dass nicht mehr alle Reize im Gehirn ankommen und dort verarbeitet werden müssen. Denn nur der Reiz, der im Gehirn ankommt, muss auch verarbeitet werden. Den Reiz auf dem Weg dorthin schon zu kappen oder umzuleiten, ist eine hilfreiche Methode.
Nachsorge
Bei der Reizüberflutung handelt es sich eher um einen Aspekt im Zusammenhang stehend mit anderen ursächlichen Erkrankungen, die psychischer oder physischer Herkunft sein können. Sie stellt regulär kein eigenständiges Krankheitsbild dar und kann deshalb auch nicht alleinig in einer Nachsorge behandelt werden. Die ursächliche Erkrankung muss deshalb im Fokus stehen und behandelt werden, um dort eine Nachsorge zu ermöglichen. Diese ist sehr individuell und patienten- sowie erkrankungsbezogen.
Bei einer einmaligen Reizüberflutung stellt diese ansich auch nicht unbedingt ein Krankheitsbild für sich oder ein Symptom für eine andere Erkrankung dar. Viele Menschen haben in ihrem Leben solche einmaligen Erlebnisse einer Reizüberflutung und bedürfen insgesamt keiner besonderen Behandlung oder Nachsorge.
Insgesamt lässt sich also sagen, dass es keine spezifische Nachsorge für die Reizüberflutung gibt oder geben muss. Es ist jedoch erforderlich zu überprüfen, ob eine Reizüberflutung erneut oder gehäuft auftritt und einen Arzt entsprechend zu Rate zu ziehen. Erster Ansprechpartner für den Patienten ist hier der Hausarzt.
Es empfiehlt sich jedoch, der Ursache auf den Grund zu gehen - dies kann bedeuten, den derzeitigen Lebensstil, der mitunter zu schnelllebig sein kann, auf ein minimales Level an Eindrücken zu reduzieren. Lange Spaziergänge, vornehmlich in der Natur, helfen, die Sinne zu beruhigen und den Stress zu mindern, der die Reizüberflutung hervorgerufen hat. Auch die Einschränkung von sozialen Medien und Fernsehen kann helfen, die überreizten Sinne zu entlasten und zu einem Wohlbefinden zurück zu finden. Generell ist ein behutsameres Herangehen an das Tagespensum zu empfehlen und dies gegebenefalls herabzusenken, um den Geist ruhiger zu stellen.
Das können Sie selbst tun
Der Mensch entscheidet immer noch ganz alleine, was er denken möchte und was er wahrnimmt. Folglich kann er auch bewusst steuern, was er an Reizen zulässt. Bis zu einem gewissen Grad liegt es also an uns selbst, wieviele Reize wir zulassen.
Wir können den Ausschalter in unserem Kopf betätigen, ebenso können wir den Ausschalter am Computer, Fernseher oder Telefon betätigen. Damit sind unglaublich viele Reize ausgeschaltet. Und jeder kann selber entscheiden, wann die Reizflut wieder beginnen darf.
Auch Abschottung ist eine überall mögliche Selbsthilfe, Reizen zu entkommen. Einfach mal den Raum verlassen, das stille Örtchen für einen Moment zu besuchen oder in die Natur zu gehen. Aktives Aussteigen aus der Situation gelingt auch über bestimmte Techniken wie zum Beispiel die eutonische Entspannung, in der gelehrt wird, zwischen Innen (Körper)- und Außenreizen (Umwelt) zu differenzieren und das Außen abzuschalten.
Ein Ausgleich zu den Anforderungen der Umwelt ist immer noch ein gutes und schon altbewährtes Mittel. Den Ausgleich über ein Hobby zu finden, welches zu festen Zeiten im Alltag bewusst praktiziert wird, minimiert Reize und reduziert damit auch eine Überflutung.
Alles in Allem geht es darum, sich selber bewusst wahrzunehmen. Denn nur wer sich selbst wahrnehmen kann und sich auch wertvoll genug ist, kann die Reizüberflutung erkennen und sie verändern. Der Patient kann die Umwelt hingegen nicht verändern.
Er kann allerdings seinen Umgang mit ihr und den ankommenden Reizen aktiv verändern. Aktive Verantwortung für sich und seinen Körper ist die Basis für alle Therapien dieser Welt.
Quellen
- Grüne, S., Schölmerich, J.: Anamnese, Untersuchung, Diagnose. Springer, Heidelberg 2007
- Netter, F.H. et. al.: NETTERs Allgemeinmedizin. Thieme, Stuttgart 2006
- Schneider, F.: Facharztwissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Berlin 2012