Racemat

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 18. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Als Racemat bezeichnet man ein Gemisch zweier chemischer Stoffe, die sich lediglich in ihrer dreidimensionalen Struktur unterscheiden. Diese verhalten sich zueinander wie Bild und Spiegelbild und können jeweils sehr unterschiedliche pharmakologische Wirkungen auf den menschlichen Körper haben.

Inhaltsverzeichnis

Was ist ein Racemat?

Das Schmerzmittel Ibuprofen liegt in der Regel als Racemat vor.

Ein Racemat (auch racemisches Gemisch) bezeichnet ein Gemisch von zwei chemischen Stoffen, die im gleichen Mengenverhältnis zueinander vorliegen. Sie unterscheiden sich dabei in ihrer dreidimensionalen Struktur, die sich aus der jeweiligen Anordnung der Atome ergibt.

Besitzt ein Atom vier Bindungen zu jeweils vier anderen unterschiedlichen Atomen oder Atomgruppen, so bezeichnet man dieses Atom als chiral. Besitzt eine chemische Verbindung mindestens ein chirales Atom, so können die vier Bindungspartner zwei verschiedene Anordnungen um das chirale Atom einnehmen.

Daraus ergeben sich zwei Stoffe, sogenannte Enantiomere, die sich in ihrer Raumstruktur wie Bild und Spiegelbild oder etwa wie linker und rechter Handschuh zueinander verhalten: Obwohl sie exakt die gleichen Atome oder Atomgruppen enthalten, können sie nicht zur Deckung gebracht werden und sind somit von einander eindeutig zu unterscheiden. Man bezeichnet sie in der Regel als (R)- und (S)-Enantiomer.

Pharmakologische Wirkung

Die Enantiomere eines Stoffes unterscheiden sich in ihren physikalischen Eigenschaften nur im Bezug auf ihre optische Aktivität. Ein Stoff ist optisch aktiv, wenn er messbar eine bestimmte Eigenschaft des Lichtes verändert, wenn dieses durch ihn hindurch tritt. Dies ist eine der Möglichkeiten, die jeweiligen Enantiomere zu unterscheiden und stellt ein wesentliches Kriterium bei der Reinheitsprüfung eines potentiell racemischen Gemisches dar.

In ihren physiologischen Eigenschaften unterscheiden sich Enantiomere oftmals erheblich, wodurch ihrer Unterscheidung oder der Reinheit eines Racemats große Bedeutung in der Pharmazeutik zukommt. Jedes Arzneimittel besitzt im menschlichen Körper einen Wirkungsort, ein sogenanntes Target, an dem es von körpereigenen Strukturen erkannt wird. Diese Strukturen sind meist selbst chiral und erkennen in der Regel nur ein bestimmtes Enantiomer eines Stoffes.

Daher ist es bei der Herstellung von Medikamenten extrem wichtig, dass nur das wirksame Enantiomer im Produkt enthalten ist. Es kann sonst zu schwerwiegenden Nebenwirkungen kommen, da das (oft weniger wirksame) Spiegelbildenantiomer beispielsweise an einem völlig anderen Ort im Körper binden und eine ungewollte Reaktion auslösen kann.

Es ist auch möglich, dass das falsche Enantiomer von einem Enzym im Körper abgebaut wird, bevor es sein Target überhaupt erreicht. Oder es bindet an ein Transportprotein und gelangt so an einen nicht gewünschten Ort im Körper. Die Interaktionsmöglichkeiten sind äußerst vielfältig, weshalb die Nebenwirkungen kaum vorhersagbar sind, wenn ein Racemat oder nicht-enantiomerenreines Gemisch im Produkt vorliegt.

Ein weniger ernstes, dafür praktisches Beispiel sind Aromastoffe. Die Geruchsrezeptoren in unserer Nase besitzen ebenso eine Chiralität und sind auf die Erkennung bestimmter Stoffe zugeschnitten. So riecht ein Enantiomer des Naturstoffes Carvon nach Kümmel, das zugehörige Spiegelbildenantiomer jedoch nach Minze.

Medizinische Anwendung & Verwendung

Viele der organischen Verbindungen, die als Wirkstoffe in Medikamenten eingesetzt werden, besitzen chirale Atome und somit verschiedene Enantiomere. Daher muss bereits bei der Synthese dieser Stoffe darauf geachtet werden, ein möglichst enantiomeren-reines Produkt zu erhalten.

Die nachträgliche Trennung gestaltet sich technisch sehr aufwändig, weshalb Nebenwirkungen in manchen Fällen toleriert werden und ein Racemat als Arzneimittel zugelassen wird. Da die zusammengehörigen Enantiomere oftmals unterschiedliche Wirkstärken besitzen, muss das finale Arzneiprodukt in diesem Fall höher dosiert werden, um die selbe Wirksamkeit wie die eines enantiomeren-reinen Medikamentes zu erreichen.

Zum Beispiel besitzt das Narkosemittel Ketamin ein (S)-Enantiomer, welches eine bessere analgetische und anästhetische Wirkung hat sowie geringere psychotrope Nebeneffekte als das entsprechende (R)-Enantiomer. Hier ist es für den Patienten von Vorteil, wenn der (S)-enantiomerenreine Arzneistoff verwendet wird.

Ein weiteres Beispiel ist das Schmerzmittel Ibuprofen, welches in der Regel als Racemat vorliegt. Dabei besitzt nur das (S)-Enantiomer eine analgetische Wirkung, das (R)-Enantiomer hingegen ist so gut wie unwirksam. Letzteres wird jedoch im Organismus von einem körpereigenen Enzym zu einem bestimmten Anteil in die wirksame (S)-Form umgewandelt. Es muss daher keine aufwändige Synthese oder nachträgliche Trennung der Enantiomere vorgenommen werden.


Risiken & Nebenwirkungen

Die Unwirksamkeit eines Enantiomers ist eine vergleichsweise harmlose Nebenwirkung bei der Verwendung eines racemischen Gemischs als Arzneimittel. Ein tragisches Beispiel für sehr schwere Nebenwirkungen ist das Schlafmittel Contergan mit dem Wirkstoff Thalidomid. Contergan wurde in den 1950er Jahren als nicht-letales Schlafmittel beworben und war bei Schwangerenbeliebt, da es zusätzlich die Morgenübelkeit verringerte. In den bis dahin durchgeführten Tierversuchen zeigten sich kaum Nebenwirkungen. Nach Markteinführung traten jedoch vermehrt Missbildungen bei Neugeborenen auf und das Medikament wurde nach vier Jahren wieder vom deutschen Markt genommen.

Viele Studien untersuchten daraufhin die Wirkungsweise von Thalidomid und konnten zeigen, dass das Molekül an einen Wachstumsfaktor im ungeborenen Kind bindet und so die embryonale Entwicklung stört. Bisher konnte diese teratogene Wirkung keinem der beiden Enantiomere definitiv zugeschrieben werden, zumal sich die beiden Enantiomere im Körper ineinander umwandeln. Ähnliche Studien legen jedoch nahe, dass das (S)-Enantiomer des Thalidomids eine stärkere schädigende Wirkung haben könnte.

Bei dem Lokalanästhetikum Bupivacain geht eine erhebliche Gefahr von einem versehentlichen Eintritt in den Blutkreislauf aus. Dabei löst das (R)-Enantiomer einen stärkeren Abfall der Herzfrequenz aus, als das entsprechende (S)-Enantiomer. Jedoch zeigen beide eine vergleichbare anästhetische Wirkung. Wird hier ein (S)-enantiomeren-reiner Wirkstoff eingesetzt, können diese ernsten Nebenwirkungen für die Patienten verringert werden.

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