Thalidomid
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 5. Juni 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Thalidomid ist ein Arzneistoff aus der Wirkstoffklasse der Sedativa. Er führte durch Schädigungen an Ungeborenen zum Contergan-Skandal.
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Was ist Thalidomid?
Der Wirkstoff Thalidomid, auch als α-Phthalimidoglutarimid bekannt, wurde früher als Schlaf- und Beruhigungsmittel verordnet. Er wurde in den 1950er Jahren im Stolberger Pharmaunternehmen Grünenthal entwickelt. Mit dem Wirkstoff Thalidomid erwirtschaftete das Unternehmen Grünenthal in den 1960er Jahren fast die Hälfte des deutschen Umsatzes.
Den Forschungsergebnissen von Grünenthal zufolge zeigten sich bei nicht trächtigen Ratten und Mäusen keinerlei krankhafte Reaktionen. Selbst hohe Dosen verursachten im Tierversuch weder tödliche Reaktionen noch Nebenwirkungen. Das hatte zur Folge, dass der Wirkstoff als ungiftig eingestuft wurde. Von Oktober 1957 bis zum November 1961 vermarktete Grünenthal den Wirkstoff unter dem Namen Contergan als nahezu nebenwirkungsfreies Beruhigungs- und Schlafmedikament.
Contergan wurde Ende der 1950er Jahre sogar als das bevorzugte Mittel für Schwangere mit Schlafstörungen empfohlen. Wenige Zeit später kam es dann zum sogenannten Contergan-Skandal, da sich die Anzahl missgebildeter Neugeborener häufte. Dass die Schädigungen auf die Einnahme des Wirkstoffs Thalidomid zurückzuführen waren, kristallisierte sich zu Beginn des Jahres 1959 heraus. Trotzdem wurde Contergan noch bis November 1961 vertrieben. Deutschlandweit gibt es rund 4000 Contergangeschädigte.
Seit 2009 ist Thalidomid zur Behandlung des multiplen Myeloms in Deutschland zugelassen.
Pharmakologische Wirkung
Thalidomid ist ein Derivat der Glutaminsäure und gehört zur Gruppe der Piperidindione. Dabei handelt es sich um strukturelle Abwandlungen der Barbiturate. Der Wirkstoff wirkt beruhigend und fördert den Schlaf. Auch entzündungshemmende Eigenschaften konnten nachgewiesen werden.
Der Wirkstoff blockiert den Wachstumsfaktor VEGF. Durch die Hemmung dieses Vascular Endothelial Growth Factors wird die Bildung von Blutgefäßen gehemmt.
Medizinische Anwendung & Verwendung
Aufgrund des Contergan-Skandals ist Thalidomid heute selbstverständlich nicht mehr als Schlaf- und Beruhigungsmittel zugelassen. In Deutschland wird der Wirkstoff jedoch zur Behandlung des multiplen Myeloms genutzt. Das multiple Myelom, auch als Morbus Kahler bekannt, ist eine bösartige Erkrankung, die zu den B-Zell-Lymphomen gehört und durch eine Vermehrung der Plasmazellen im Knochenmark charakterisiert ist.
In den USA wird Thalidomid auch zur Behandlung der Infektionskrankheit Lepra genutzt. Weitere Indikationen für den Einsatz von Thalidomid sind verschiedene Haut- und Autoimmunkrankheiten. So zeigte sich vor allem bei Kindern und Jugendlichen mit Morbus Crohn eine Besserung der Symptomatik durch die immunmodulatorische Wirkung des Arzneistoffes.
Die Abgabe von Thalidomid wird in Deutschland durch einen Paragraphen der Arzneimittelverschreibeordnung geregelt. Arzneimittel mit dem Wirkstoff Thalidomid sind nur mit einem T-Rezept erhältlich. Das T-Rezept ist ein Rezeptformular, das nur zur Verordnung von Thalidomid genutzt wird. Ferner müssen Patienten schriftlich versichern, dass sie unter der Einnahme von Thalidomid verhüten.
Verabreichung & Dosierung
Bei der Verabreichung und Dosierung von Thalidomid sind mehrere wichtige Aspekte zu beachten, um die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung zu gewährleisten. Thalidomid wird heute hauptsächlich zur Behandlung von multiplen Myelomen und Lepra verwendet und ist aufgrund seiner teratogenen Eigenschaften, die zu schweren Geburtsfehlern führen können, streng reguliert.
Die empfohlene Anfangsdosis von Thalidomid zur Behandlung des multiplen Myeloms beträgt in der Regel 200 mg pro Tag, eingenommen vor dem Schlafengehen, um Schläfrigkeit und andere Nebenwirkungen zu minimieren. Diese Dosis kann je nach individuellem Ansprechen und Verträglichkeit angepasst werden. Bei Lepra beträgt die Anfangsdosis oft 100 bis 300 mg pro Tag.
Es ist unerlässlich, dass Frauen im gebärfähigen Alter vor Beginn der Therapie und während der Behandlung strenge Empfängnisverhütungsmaßnahmen einhalten, da Thalidomid selbst in geringen Dosen schwerwiegende Fehlbildungen beim Fötus verursachen kann. Frauen müssen vor Beginn der Behandlung einen negativen Schwangerschaftstest vorweisen und regelmäßig während der Therapie getestet werden.
Neben der Teratogenität hat Thalidomid weitere potenzielle Nebenwirkungen, darunter periphere Neuropathie, Schläfrigkeit, Schwindel und Verstopfung. Daher ist eine regelmäßige Überwachung durch den behandelnden Arzt erforderlich, um mögliche Nebenwirkungen frühzeitig zu erkennen und die Dosierung entsprechend anzupassen.
Patienten sollten auch darauf hingewiesen werden, dass Thalidomid mit anderen Medikamenten interagieren kann. Beispielsweise kann die gleichzeitige Einnahme von Thalidomid mit Barbituraten, Alkohol oder anderen ZNS-dämpfenden Substanzen die sedierende Wirkung verstärken.
Insgesamt muss die Verabreichung von Thalidomid unter strenger ärztlicher Aufsicht erfolgen, und Patienten sollten umfassend über die Risiken und notwendigen Vorsichtsmaßnahmen informiert werden.
Risiken & Nebenwirkungen
Wenn Thalidomid innerhalb der ersten drei Monate der Schwangerschaft eingenommen wird, kommt es bei den Ungeborenen zu schweren Fehlbildungen. Dabei sind insbesondere die Extremitäten betroffen. Gliedmaßen und Organe können komplett fehlen. Die Klumphand gehört zu den typischen Dysmelien, die durch Thalidomid entstehen können. Sie tritt durch einen verkürzten Arm und einen nach innen oder außen verbogenen Unterarm in Erscheinung. Auch ganze Knochen können fehlen.
Grund für diese Missbildungen ist die Hemmung des Vascular Endothelial Growth Factors. Durch die fehlende Blutgefäßbildung in den Extremitäten des Ungeborenen kommt es zu einer verkürzten oder komplett fehlenden Anlage von Armen und Beinen. Anhand von Untersuchungen kann recht genau belegt werden, welche Schädigungen zu welchem Zeitpunkt der Schwangerschaft hervorgerufen werden. Bei einer Einnahme zwischen dem 34. und dem 37. Schwangerschaftstag kommt es zum Beispiel zu einer fehlenden Ohrmuschel.
Erfolgt die Einnahme zwischen dem 38. und dem 45. Tag nach der Regelblutung entwickeln die Kinder Armfehlbildungen. Beinfehlbildungen entstehen zwischen dem 41. und dem 47. Tag. Zunächst wurde befürchtet, dass Thalidomid auch das Erbgut schädigt und die Schädigungen so auf folgende Generationen übergehen würden. Diese Befürchtung hat sich jedoch nicht bewahrheitet.
Doch auch außerhalb der Schwangerschaft kann Thalidomid Nebenwirkungen haben. So entwickeln einige Patienten unter der Einnahme von Thalidomid eine Polyneuropathie. Möglicherweise besteht zudem ein erhöhtes Risiko für bösartige Entartungen.
Kontraindikationen
Thalidomid, ein Medikament mit schweren Nebenwirkungen, ist für verschiedene Patientengruppen kontraindiziert. Eine der wichtigsten Kontraindikationen betrifft Schwangere und Frauen im gebärfähigen Alter, die keine zuverlässigen Verhütungsmethoden anwenden. Thalidomid ist stark teratogen und kann schwere Fehlbildungen beim Fötus verursachen. Daher müssen Frauen vor Beginn der Behandlung und regelmäßig während der Therapie Schwangerschaftstests durchführen und strenge Verhütungsmaßnahmen einhalten.
Eine weitere Kontraindikation besteht bei Patienten mit schwerer peripherer Neuropathie. Thalidomid kann diese Bedingung verschlimmern, daher sollten Patienten mit bestehenden Nervenschäden oder einer Veranlagung zur Neuropathie Thalidomid meiden oder unter strenger ärztlicher Überwachung verwenden.
Patienten mit schwerer Herzinsuffizienz oder anderen schweren kardiovaskulären Erkrankungen sollten ebenfalls kein Thalidomid einnehmen, da das Medikament das Risiko für tiefe Venenthrombosen und andere thromboembolische Ereignisse erhöhen kann.
Darüber hinaus sollte Thalidomid nicht bei Patienten mit einer bekannten Überempfindlichkeit oder Allergie gegen den Wirkstoff oder einen seiner Bestandteile angewendet werden.
Patienten mit eingeschränkter Leber- oder Nierenfunktion müssen ebenfalls vorsichtig sein, da die Metabolisierung und Ausscheidung von Thalidomid in diesen Fällen beeinträchtigt sein kann, was das Risiko für Nebenwirkungen erhöht.
Schließlich sollten Patienten mit einer Vorgeschichte von schwerer Hautreaktion, wie Stevens-Johnson-Syndrom oder toxischer epidermaler Nekrolyse, Thalidomid vermeiden, da es solche schweren Hautreaktionen hervorrufen kann.
Interaktionen mit anderen Medikamenten
Bei der Verwendung von Thalidomid sind mehrere potenzielle Interaktionen mit anderen Medikamenten zu beachten, die die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung beeinflussen können.
Benzodiazepine und andere ZNS-dämpfende Substanzen: Thalidomid hat sedierende Eigenschaften. Die gleichzeitige Anwendung von Thalidomid mit Benzodiazepinen, Barbituraten, Alkohol oder anderen ZNS-dämpfenden Substanzen kann die sedierende Wirkung verstärken und zu starker Schläfrigkeit, Schwindel oder Atemdepression führen .
Hormonelle Verhütungsmittel: Obwohl Thalidomid keine direkte Wechselwirkung mit hormonellen Verhütungsmitteln hat, müssen Frauen im gebärfähigen Alter aufgrund der teratogenen Risiken von Thalidomid zuverlässige Verhütungsmethoden anwenden. Daher wird oft eine Kombination von zwei Verhütungsmethoden empfohlen, um das Risiko einer Schwangerschaft zu minimieren .
Antikoagulanzien: Thalidomid kann das Risiko von thromboembolischen Ereignissen erhöhen. Bei gleichzeitiger Anwendung von Antikoagulanzien wie Warfarin kann das Risiko für Blutgerinnsel weiter erhöht werden. Eine sorgfältige Überwachung der Blutgerinnungsparameter ist daher notwendig, um das Risiko für thromboembolische Ereignisse zu minimieren .
Lenalidomid und andere immunmodulierende Medikamente: Thalidomid wird häufig in Kombination mit anderen immunmodulierenden Medikamenten wie Lenalidomid zur Behandlung des multiplen Myeloms verwendet. Diese Kombination kann jedoch das Risiko für Nebenwirkungen wie tiefe Venenthrombosen und periphere Neuropathie erhöhen. Eine engmaschige Überwachung und Dosisanpassung kann erforderlich sein .
Erythropoese-stimulierende Agenzien: Bei gleichzeitiger Anwendung von Thalidomid und erythropoese-stimulierenden Agenzien (ESAs) wie Erythropoetin kann das Risiko für thromboembolische Ereignisse erhöht sein. Daher sollten Patienten sorgfältig auf Anzeichen von Thrombosen überwacht werden .
Insgesamt erfordert die Anwendung von Thalidomid eine sorgfältige Abwägung der potenziellen Wechselwirkungen und eine enge Überwachung durch den behandelnden Arzt, um die Sicherheit und Wirksamkeit der Behandlung sicherzustellen.
Alternative Behandlungsmethoden
Wenn Thalidomid nicht vertragen wird, stehen mehrere alternative Behandlungsmethoden und Wirkstoffe zur Verfügung, insbesondere zur Behandlung des multiplen Myeloms und anderer Indikationen, für die Thalidomid normalerweise eingesetzt wird.
Lenalidomid: Dieses Medikament ist ein weiteres immunmodulierendes Mittel, das oft bei der Behandlung des multiplen Myeloms eingesetzt wird. Es hat ähnliche Wirkmechanismen wie Thalidomid, aber eine unterschiedliche Nebenwirkungs- und Verträglichkeitsprofil, was es zu einer guten Alternative macht .
Pomalidomid: Dieses Medikament gehört ebenfalls zur Gruppe der Immunmodulatoren und wird bei Patienten eingesetzt, die auf andere Behandlungen nicht ansprechen. Es ist ähnlich wie Lenalidomid, aber es kann in Fällen wirksam sein, in denen Thalidomid und Lenalidomid versagen oder nicht vertragen werden .
Bortezomib: Ein Proteasom-Inhibitor, der in Kombination mit anderen Medikamenten zur Behandlung des multiplen Myeloms verwendet wird. Bortezomib wirkt, indem es die Proteasom-Aktivität in Krebszellen hemmt, was zu deren Absterben führt .
Carfilzomib: Ein weiterer Proteasom-Inhibitor, der für Patienten geeignet ist, die auf Bortezomib oder andere Behandlungen nicht ansprechen. Es bietet eine alternative Wirkmechanismus und kann bei der Reduzierung von Myelomzellen wirksam sein .
Daratumumab: Dies ist ein monoklonaler Antikörper, der sich gegen CD38 richtet, ein Protein, das auf der Oberfläche von Myelomzellen gefunden wird. Es wird oft in Kombination mit anderen Myelom-Behandlungen verwendet und bietet eine alternative Therapieoption für Patienten, die Thalidomid nicht vertragen .
Autologe Stammzelltransplantation: Für geeignete Patienten kann eine autologe Stammzelltransplantation eine effektive Behandlungsoption sein. Diese Methode beinhaltet die Verwendung von hohen Dosen Chemotherapie gefolgt von der Reinfusion eigener Stammzellen des Patienten, um die Blutbildung wiederherzustellen .
Diese Alternativen bieten verschiedene Wirkmechanismen und können basierend auf den individuellen Bedürfnissen und Reaktionen des Patienten ausgewählt werden.
Quellen
- "Goodman & Gilman's The Pharmacological Basis of Therapeutics" von Laurence Brunton, Randa Hilal-Dandan, und Bjorn Knollmann
- "Rang & Dale's Pharmacology" von Humphrey P. Rang, Maureen M. Dale, James M. Ritter, und Rod J. Flower
- "Basic and Clinical Pharmacology" von Bertram Katzung, Anthony Trevor