Thalidomid-Contergan-Embryopathie

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 27. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Die Thalidomid-Contergan-Embryopathie führt zu entwicklungsbedingten Fehlbildungen des Embryos in der Frühschwangerschaft. Die Ursache ist die Exposition gegenüber dem Schadstoff Thalidomid beziehungsweise Contergan. Die Therapie der betroffenen Patienten findet in einem interdisziplinären Ärzteteam statt und dauert meist lebenslang.

Inhaltsverzeichnis

Was ist eine Thalidomid-Contergan-Embryopathie?

Die Ursache für Thalidomid-Contergan-Embryopathien sind Thalidomid-haltige Arzneimittel, die Frauen während der ersten drei Schwangerschaftsmonate eingenommen haben.
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Bei embryogenetischen Entwicklungsstörungen durch Schadeinflüsse während der ersten drei Schwangerschaftsmonate handelt es sich um Embryopathien. Contergan-assoziierte Fehlbildungen werden als Thalidomid-Contergan-Embryopathie bezeichnet. Thalidomid, früher auch als Contergan bezeichnet, ist ein Glutaminsäurederivat, das dämpfende Wirkung auf das zentrale Nervensystem zeigt.

Das Immunsystem wird durch die Arznei herunterreguliert, sodass mit dem Medikament auch entzündungshemmende Eigenschaften assoziiert sind. Durch seine Wirkstoffe zählt Thalidomid zu den Piperidindionen und stellt damit eine Strukturabwandlung der Barbiturate dar.

In Deutschland wurde das Medikament Contergan in den 50er Jahren rezeptfrei ausgegeben und kam vorwiegend als Schlaf- und Beruhigungsmittel zum Einsatz. Aufgrund der Nebenwirkungen bei der Einnahme entwickelte sich in den 70er Jahren der größte Skandal der deutschen Pharmaindustrie. Anklagen wegen Körperverletzung und fahrlässiger Tötung gegen die Firma Grünenthal häuften sich. Viele der Patienten litten nach der Einnahme an Polyneuritis.

Die Einnahme von Contergan während der ersten drei Monate einer Schwangerschaft zeigte darüber hinaus schädigende Auswirkungen auf die Embryogenese, sodass 10.000 Kinder mit Contergan-assoziierten Fehlbildungen geboren wurden.

Ursachen

Die Ursache für Thalidomid-Contergan-Embryopathien sind Thalidomid-haltige Arzneimittel, die Frauen während der ersten drei Schwangerschaftsmonate eingenommen haben. In dieser Frühentwicklungsphase des Embryos ist das ungeborene Kind für alle äußeren Einflüsse besonders anfällig. Aus diesem Grund werden Schwangerschaften bis zum vierten Monat meist geheim gehalten.

Häufig geht das Embryo als Reaktion auf Schadstoffexposition in den ersten drei Monaten noch ab. Auch Thalidomid-Contergan-Embryopathien können abhängig von ihrer Schwere eine Fehlgeburt hervorrufen. Wenn das Kind die Schadstoffexposition überlebt und damit geboren wird, äußert sich die Embryopathie in Missbildungen. Falls die werdende Mutter zwischen Tag 34 und Tag 38 nach ihrer letzten Regelblutung Thalidomid-haltige Medikamente eingenommen hat, führt die Schadstoffexposition meist zu einer Gesichtslähmung und fehlenden Ohrmuscheln.

Bei einer Exposition zwischen Tag 40 und Tag 44 kommt es zu Fehlbildungen der Arme. Zwischen Tag 43 und Tag 46 können außerdem Fehlbildungen der Beine aus der Exposition entstehen. Eine Einnahme von Medikamenten wie Contergan zwischen Tag 48 und Tag 50 hat Daumenfehlbindungen und Enddarmverengungen zur Folge. Vor allem die mit dem Medikament assoziierte Hemmung der Ligase-Aktivität ist eine Hauptursache der Missbildungen. Diese Hemmung ergibt sich durch Bindung des Thalidomid an Cereblon.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Patienten der Thalidomid-Contergan-Embryopathie leiden an einer breiten Palette von Symptomen, die sich in ihrer Ausprägung stark unterscheiden können und mit dem Maß sowie genauen Zeitpunkt der Exposition korrelieren. Die am häufigsten von Schädigungen betroffenen Körperstrukturen sind die Arme. Fehlbildungen der Arme treten bei der Contergan-Einnahme während der Schwangerschaft sogar in mehr als der Hälfte aller Fälle auf.

In rund einem Viertel aller Fälle sind neben den Armen auch die Beine von Fehlbildungen betroffen. Die Missbildungen können Deformitäten oder Unterentwicklungen entsprechen, wobei auch die fehlende Anlage eines Beins oder Arms im Bereich des Möglichen liegt. In etwas mehr als zehn Prozent aller Fälle zeigen die Betroffenen außerdem Fehlbildungen der Ohren, die sich von den Ohrmuscheln bis über das Innenohr erstrecken können.

Die Arme und Ohren sind gleichzeitig in etwa fünf Prozent aller Fälle betroffen. Missbildungen der inneren Organe wurden nur an rund zwei Prozent aller Betroffenen beobachtet. Aufgrund von Fehlstellungen und Missbildungen leiden die Patienten häufig schnell an degenerativen Veränderungen der Gelenke, die mit Schmerzen der Schultern, Ellbogen, Hüften, Hände oder Wirbelsäule einhergehen können. Neben diesen Folgeschäden können psychische Erkrankungen als eine Folge der Fehlbildungen eintreten.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Die Diagnose einer Thalidomid-Contergan-Embryopathie wird vom Arzt bei entsprechender Anamnese in der Regel sichtdiagnostisch gestellt. Die charakteristischen Missbildungen reichen für eine sichere Diagnostik aus, wenn die Mutter von Thalidomid-Einnahme in der Schwangerschaft berichtet.

Um sich ein Bild über alle Missbildungen zu machen, veranlasst der Arzt in der Regel vielfältige Bildgebungen. Dazu zählen zum Beispiel Aufnahmen der inneren Organe. Die Prognose der Patienten hängt stark von den vorliegenden Fehlbildungen sowie Stärke und Dauer der Thalidomid-Exposition im Einzelfall ab.

Komplikationen

Betroffene der Thalidomid-Contergan-Embryopathie müssen aufgrund der verschiedenen Beschwerden immer auch mit schweren Komplikationen rechnen. Fehlbildungen der Arme führen im Allgemeinen zu einer eingeschränkten Lebensqualität und haben auf die Patienten und deren Eltern auch erhebliche psychische Auswirkungen. Die Missbildungen selbst können mit Stoffwechselstörungen, Durchblutungsstörungen, Infektionen und anderen Komplikationen einhergehen.

Missbildungen der inneren Organe haben, abhängig davon, welches Organ betroffen ist, ebenfalls schwerwiegende Folgen. So kann es zu unterschiedlichen Nieren- und Lebererkrankungen, Störungen des Herz-Kreislauf-Systems und chronischen Magen-Darm-Beschwerden kommen. Degenerative Veränderungen der Gelenke sind mit Schmerzen, Fehlstellungen und vorzeitigem Gelenkverschleiß verbunden. Eine Ohrmuschelfehlbildung hat für die Betroffenen hauptsächlich psychische Folgen.

Diese leiden aufgrund des optischen Makels häufig an Hänseleien oder Mobbing und werden in Folge der sozialen Ausgrenzung aggressiv oder depressiv. Die TCE-Therapie ist ebenfalls mit Risiken verbunden. Die chirurgischen Eingriffe sind meist komplex und können weitere Schäden an den Organen, Gelenken, Muskeln und Sehnen hervorrufen.

Typische Komplikationen sind Infektionen, Blutungen, Nachblutungen, Wundheilungsstörungen und allergische Reaktionen. Werden Implantate eingesetzt, so besteht die Gefahr, dass der Organismus diese nach Monaten oder Jahren wieder abstößt.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Bei der Thalidomid-Contergan-Embryopathie ist der Betroffene immer auf eine medizinische Untersuchung und Behandlung angewiesen, da es nicht zu einer selbstständigen Heilung kommen kann. Je früher die Krankheit erkannt und behandelt wird, desto besser ist in der Regel auch der weitere Verlauf. Daher sollte schon bei den ersten Symptomen und Anzeichen der Krankheit ein Arzt kontaktiert werden, um eine weitere Verschlechterung der Beschwerden zu verhindern. In der Regel ist der Arzt bei der Thalidomid-Contergan-Embryopathie dann zu kontaktieren, wenn der Betroffene an verschiedenen Fehlbildungen leidet.

Diese Fehlbildungen können die Ohren oder andere Bereiche des Gesichtes betreffen. Nicht selten können auch psychische Beschwerden auf die Thalidomid-Contergan-Embryopathie hindeuten und müssen ebenfalls untersucht werden. Die meisten Betroffenen leiden auch an starken Schmerzen in den Schultern oder an sehr steifen Gelenken. Treten diese Symptome auf, so sollte ein Allgemeinarzt oder ein Kinderarzt kontaktiert werden. Die weitere Behandlung der Thalidomid-Contergan-Embryopathie richtet sich immer nach den genauen Beschwerden und nach ihrer Ausprägung. Sie wird dann durch einen Facharzt durchgeführt. In der Regel wird die Lebenserwartung des Betroffenen durch diese Krankheit nicht verringert.

Behandlung & Therapie

Die therapeutische Betreuung von Menschen mit Thalidomid-Contergan-Embryopathie erfolgt durch ein interdisziplinäres Behandlungsteam aus Ärzten verschiedener Fachrichtungen, Physiotherapeuten, Ergotherapeuten, Psychologen und Sozialarbeitern. In der Regel ist eine lebenslange Betreuung erforderlich, die mit personell und finanziell hohem Aufwand assoziiert ist.

Bei Fehlbildungen der inneren Organe kann das Leben des Patienten auf dem Spiel stehen. Aus diesem Grund gilt diesen Missbildungen zunächst die höchste Aufmerksamkeit. Invasiv chirurgische Korrekturen der organischen Fehler finden soweit wie möglich statt. Im Extremfall kann auf lange Sicht eine Organtransplantation erforderlich werden. Auch Missbildungen der Arme und Beine können unter Umständen chirurgisch behandelt werden.

Da es sich bei den Fehlbildungen allerdings häufig um die fehlende Anlage von Gliedmaßen oder Gliedern handelt, kommt oft allenfalls eine prothetische Versorgung infrage. In der Ergotherapie lernen die Patienten den alltäglichen Umgang mit der Erkrankung und gegebenenfalls Kompensationsstrategien oder die Zuhilfenahme von Hilfsmitteln. Sozialarbeiter erfüllen vor allem beratende Funktion, wenn es um die Zuwendung von Hilfsorganisationen geht.

In psychologischen Sitzungen verarbeiten die Patienten ihre alltäglichen Herausforderungen und erlernen Umgangsstrategien. Auf diese Weise kann das Risiko für psychische Folgeerkrankungen minimiert werden. Wenn Fehlbildungen der Gelenke vorliegen, tritt als Folge oft Arthrose ein. In einem solchen Fall kann die Versorgung mit künstlichen Gelenken erforderlich werden.

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Vorbeugung

Werdende Mütter können der Thalidomid-Contergan-Embryopathie vorbeugen, indem sie während der Schwangerschaft keine damit assoziierten Medikamente einnehmen. Falls sich Medikamente aus gesundheitlichen Gründen nicht absetzen lassen, gilt die Entscheidung gegen ein eigenes Kind als einzige Vorbeugemaßnahme.

Nachsorge

Die Nachsorge einer Thalidomid-Contergan-Embryopathie ist stark abhängig von den Fehlbildungen, die durch die Erkrankung hervorgerufen wurden. Darüber hinaus wird eine Thalidomid-Contergan-Embryopathie in der Regel lebenslang therapiert, weshalb eine klassische Nachsorgebehandlung wegfällt. Jedoch gibt es bestimmte Missbildungen an Ohren, Knochen und Gelenken, die mit einer Thalidomid-Contergan-Embryopathie anschließen, an deren operative Therapie eine Nachsorgebehandlung anschließen sollte.

Im Falle von Knochen- und Gelenkerkrankungen sollte diese aus physiotherapeutischen Übungen bestehen, die die Beweglichkeit und Belastbarkeit von Gelenken und Knochen gewährleistet. Außerdem kann hier eine dauerhafte Schmerztherapie notwendig sein. Im Falle von Fehlbildungen an Knochen und Gelenken, die mit Schmerzen einhergehen, sollte daher immer zusätzlich eine Schmerztherapeutische Begleitung stattfinden.

Neben einer konservativen, medikamentösen Schmerztherapie gibt es hier auch viele nichtmedikamentöse Möglichkeiten, die eine Schmerzlinderung verschaffen können. Waren Fehlbildungen der Ohren vorhanden, sollten auch nach deren erfolgreicher Therapie zusätzlich regelmäßige Kontrolluntersuchungen beim Hals-Nasen-Ohrenarzt erfolgen, um Folgeerkrankungen frühzeitig zu erkennen.

Fehlbildungen von Armen und Beinen können für die Betroffenen außerdem mit Schmerzen einhergehen, die psychisch sehr belastend sein. Dies gilt ebenso für Fehlbildungen, die lebenslang therapiert werden müssen und die starke Bewegungseinschränkungen hervorrufen. Eine zusätzliche Psychotherapie, gegebenenfalls auch mit begleitender medikamentöser psychatrischer Behandlung, kann hier Linderung verschaffen und den Patienten helfen, mit ihren Einschränkungen zurechtzukommen.

Das können Sie selbst tun

Kinder, die von einer Thalidomid-Contergan-Embryopathie betroffen sind, mussten üblicherweise bei alltäglichen Aufgaben unterstützt werden. Begleitend zur ärztlichen und therapeutischen Behandlung, die sich unter anderem aus einer Vielzahl von Operationen, Medikamentengabe und Krankengymnastik zusammensetzte, wurden erkrankte Kinder zu Hause gefördert. Hierzu wurde die Wohnung behindertengerecht ausgestattet, insoweit dies in den 60er Jahren möglich war.

Zudem galt es, Gehhilfen, einen Rollstuhl und andere Hilfsmittel frühzeitig zu organisieren. Anschließend war eine umfassende Aufklärung wichtig. Durch Infomaterial und Bücher über das Thema Contergan wurde den betroffenen Kindern der Umgang mit ihren Fehlbildungen erleichtert.

Heutzutage tritt die Thalidomid-Contergan-Embryopathie allerdings nicht mehr neu auf, da das Medikament nicht mehr verordnet wird und die betroffenen Patienten bereits erwachsen sind. Menschen, die an einer Fehlbildung infolge der Contergan-Einnahme der Mutter leiden, haben gegebenenfalls Anspruch auf Schadenersatz. Es empfiehlt sich ein Gespräch mit einem Facharzt und einem Fachanwalt für Medizinrecht.

Personen, die an schweren Fehlbildungen leiden, müssen in der Regel zeitlebens Krankengymnastik durchführen und sind in ihren Möglichkeiten eingeschränkt. Allerdings lässt sich die Lebensqualität durch einen ausgefüllten Lebensstil verbessern. Der Bundesverband Contergangeschädigter e. V. bietet Betroffenen weitere Anlaufstellen und Informationsmaterial.

Quellen

  • Beckermann, M.J.: Frauenheilkunde und Geburtshilfe. Schwabe, Basel 2004
  • Goerke, K., Steller, J., Valet, A.: Klinikleitfaden Gynäkologie. Urban & Fischer, München 2003
  • Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2016

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