Gleichgewichtssinn
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 13. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Der Gleichgewichtssinn dient der Orientierung im dreidimensionalen Raum, der Feststellung der Körperlage im Raum einschließlich der Gliedmaßen und der Koordinierung komplexer Bewegungsabläufe.
Der Gleichgewichtssinn speist sich in erster Linie aus direkten Rückmeldungen der paarig im Innenohr angelegten Vestibularorgane, darüber hinaus nehmen Rückmeldungen tausender Propriozeptoren in Muskeln, Sehnen und Bändern Einfluss auf den Gleichgewichtssinn. Auch visuelle Rückmeldungen haben starken Einfluss und können vestibuläre Reize sogar kurzfristig „überstimmen“.
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Was ist der Gleichgewichtssinn?
Der Gleichgewichtssinn beinhaltet strenggenommen eine komplexe, zusammengesetzte Sinneswahrnehmung, die nicht nur auf der Rückmeldung eines einzigen Sinnes- oder Sensororgans beruht, sondern auf den vom Gehirn verschalteten Sensormeldungen der Vestibularorgane, der in allen Muskeln, Bändern und Sehnen zahlreich vorhandenen Propriozeptoren und der Augen. Auch Höreindrücke und der Tastsinn der Haut können eine Rolle spielen und einen Beitrag leisten.
In erster Linie sind jedoch die paarig im Innenohr angelegten Vestibular- oder Gleichgewichtsorgane zu nennen. Sie setzen sich aus je drei senkrecht aufeinander stehenden Bogengängen und je zwei Otolithenorganen zusammen. Die Vestibularorgane sind sensitiv gegenüber Dreh- und Linearbeschleunigungen, die sie in Nervenimpulse umwandeln und über den Nervus vestibularis an das Gehirn leiten, das die Meldungen zusammen mit anderen Inputs weiter verarbeitet.
Jeder Bogengang ist auf jeweils eine der drei möglichen Drehbeschleunigungen um die Hoch-, Quer- oder Längsachse spezialisiert, während für die möglichen drei Linearbeschleunigungsrichtungen vorwärts/rückwärts, seitwärts nach links/rechts und aufwärts/abwärts nur die beiden Otolithenorgane Sacculus und Utriculus zur Verfügung stehen.
Die Erdanziehungskraft entspricht einer Linearbeschleunigung, die immer in Richtung Erdmittelpunkt gerichtet ist und eine wichtige Rolle bei der Körperausrichtung spielt.
Funktion & Aufgabe
Die komplexen Bewegungsabläufe sind zum größten Teil nicht angeboren, sondern werden durch Übung erworben. Ein Kleinkind zB benötigt recht lange Zeit, um aufrechtes Gehen sicher zu beherrschen. Das Erlangen durch Lernen hat den Vorteil, das auch andere komplexe Bewegungsmuster wie Zweirad- oder sogar Einradfahren, Autofahren und Flugzeug steuern erlernt werden können.
Die erlernten Bewegungsmuster werden im multisensorischen Bewegungsgedächtnis abgespeichert und können dann beliebig abgerufen und sogar unbewusst – nahezu automatisch – durchgeführt werden. Nach gewisser Übung müssen Menschen sich nicht mehr auf das Fahrradfahren konzentrieren, sondern können sich nebenbei unterhalten und entspannen.
Während aufrechtes Gehen in völliger Dunkelheit oder bei geschlossenen Augen zwar möglich ist, gibt es keine gute Kontrolle mehr über die Richtung, in der wir gehen. Meist reichen wenige Sekunden für eine Abweichung von der einzuhaltenden geraden Linie. Die Abweichung resultiert meist darin, dass wir uns langsam im Kreis drehen.
Vestibuläre Rückmeldungen haben den großen Vorteil, dass sie sehr schnell sind, deutlich schneller als Seheindrücke über das zentrale Gesichtsfeld und deshalb als Inputs für die Koordinierung und Steuerung komplexer Bewegungsabläufe sehr gut geeignet sind.
Sie haben allerdings den großen Nachteil, dass sie nach Beaufschlagung durch eine stärkere Beschleunigung oder Abbremsung kurzzeitig falsche Impulse aussenden, weil sich die Endolymphe in den Bogengängen oder in den Otolithenorganen aufgrund der Massenträgheit noch in Bewegung befindet.
Das ist der Effekt, den Eiskunstläufer oder Tänzer nach abruptem Abstoppen einer Pirouette erleben. Die kurzzeitige Desorientierung mit nachhinkendem Drehgefühl kann durch Fixierung der Umgebung innerhalb von Bruchteilen einer Sekunde behoben werden, weil das Gehirn den Seheindruck nutzt, um den „falschen“ Drehimpuls des Vestibularsinns zu unterdrücken.
Umgekehrt kann das Gehirn z. B. auch fehlende Vestibularreize setzen, wenn das Auge eine Situation zeigt, in der eine Beschleunigung stattfinden müsste, aber keine vorhanden ist. Erfahrene Piloten können deshalb in einem Flugsimulator mit gutem Sichtsystem ohne Bewegung bei der Beschleunigung zum Take Off durchaus eine Beschleunigung spüren (Vection Illusion).
Krankheiten & Beschwerden
Sehr wahrscheinlich ist die Kinetose auf Sensorkonflikte zwischen den einzelnen Sensoren zurückzuführen, also zwischen Sehen, vestibulären Eindrücken und propriozeptiven Meldungen. Dazu gehört auch, dass zB die Augen bestimmte Situationen signalisieren, die normalerweise mit vestibulären Reizen gekoppelt sind, diese aber vollkommen ausbleiben wie in einem bewegungslosen Fahr- oder Flugsimulator. Das kann durchaus einem erfahrenen Sichtpiloten ohne Simulatorerfahrung passieren, wenn er in einem bewegungslosen Simulator fliegt.
Erkrankungen der Vestibularorgane sind meist gepaart mit Drehschwindel und Übelkeit, die bis zum Erbrechen gehen kann. Die häufigste Form eines vestibulären Drehschwindels ist der benigne paroxysmale Lagerungsschwindel, der zB durch Morbus Menière ausgelöst werden kann. Es handelt sich dabei um eine vermehrte Flüssigkeitsansammlung im häutigen Labyrinth, dem Sitz der Vestibularorgane.
Ein Dauerdrehschwindel mit Übelkeit kann durch eine Neuritis vestibularis, eine Entzündung des Vestibularnervs, ausgelöst werden. Häufig werden die Symptome von einem Nystagmus begleitet, einer unwillkürlichen Augenbewegung in einer Art Zackenmuster, das normalerweise bei anhaltender Drehbeschleunigung auftritt (z. B. Pirouette).
Insgesamt sind die Gründe für das Auftreten von Schwindelattacken und anderen Gleichgewichtsstörungen sehr vielfältig. Vielfach lösen bereits Herz-Kreislauf-Erkrankungen wie Bluthochdruck (Hypertonie) und niedriger Blutdruck (Hypotonie) Störungen im Gleichgewichtsempfinden aus.
Quellen
- Benninghoff/Drenckhahn: Anatomie Band 2. Urban & Fischer, München 2008
- Boenninghaus, H. G., Lenarz, T.: Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde. Springer, Heidelberg 2012
- Hacke, W.: Neurologie. Springer, Heidelberg 2010