Greifen

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 28. Februar 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Das Greifen ist ein automatisiertes Bewegungsmuster, das im Motorcortex des Gehirns geplant wird. Von dort aus wird der Bewegungsplan für das Greifen über die Pyramidenbahnen des Gehirns an die Willkürmuskulatur weitergegeben. Eine gestörte Greifbewegung kann auf neurodegenerative Erkrankungen hinweisen.

Inhaltsverzeichnis

Was ist das Greifen?

Das Greifen ist ein automatisiertes Bewegungsmuster, das im Motorcortex des Gehirns geplant wird.

Zum Greifen schließt eine Person die Hand aktiv um etwas in der Nähe des eigenen Körpers. Bei diesem Vorgang plant, realisiert und kontrolliert das Gehirn also eine zielgerichtete und in der Regel willkürliche Handbewegung mit Beteiligung der Finger. Alle Greifbewegungen sind sogenannte Präzisionsbewegungen und gehören damit zur Feinmotorik.

Das Greifen kann sowohl bewusst, als auch unbewusst erfolgen. Eine unbewusste Art liegt zum Beispiel bei Reflexbewegungen vor. Auch an Neugeborenen lässt sich ein unbewusster Greifreflex beobachten. Der Fötus erhält schon im Mutterleib die notwendigen Voraussetzungen mit auf den Weg gegeben, um Greifbewegungen auszuführen. Erst Kinder von über einem Jahr greifen aber mit Präzision und zeitlich guter Abstimmung nach Dingen in ihrer Umgebung.

An Greifbewegungen sind verschiedene anatomische Strukturen beteiligt. Neben den Muskeln des Arms und der Hand sind vor allem die Rückenmarksbahnen und verschiedene Gebiete des Gehirns am Greifen beteiligt. Neben dem Motorcortex für willkürliche Bewegungen spielt auch das Wahrnehmungssystem im Gehirn für Greifbewegungen eine Rolle. So hängt die Planung des Greifens zum Beispiel mit der visuellen und räumlichen Wahrnehmung zusammen.

Funktion & Aufgabe

Der Mensch greift jeden Tag einige Dutzende bis einige Hundert mal zielgerichtet nach Dingen. Schon im frühkindlichen Alter beginnt die Automatisierung der Greifbewegung. Das Greifen wird in umfassende Handlungsmuster eingearbeitet, die im Gehirn abgespeichert werden und fortan automatisiert abrufbar sind. So greift der Mensch zum Beispiel nach einem Glas, führt es zum Mund und kippt es nach oben, um trinken zu können. Da dieser Bewegungsablauf tagtäglich mehrmals stattfindet, wird er vom Gehirn automatisiert. So muss sich der Mensch im weiteren Verlauf nicht mehr auf die Einzelbewegungen konzentrieren oder die Einzelbewegungen explizit und bewusst in gedanklichen Auftrag geben. Im Anbetracht der Frequenz mit der Menschen nach etwas greifen ist diese Automatisierung ein wichtiger Schutz vor Überlastungen.

Die Zusammenstellung von Bewegungsmustern aus einfachen und einzelnen Bewegungen findet im Motorcortex statt, der einen Teil der Großhirnrinde ausmacht. Diese hintere Zone des Frontallappens bildet das übergeschaltete Steuerungssystem für die Pyramidenbahnen der Wirbelsäule. Auch das zentrale Augenfeld mündet in diesen Gehirnbereich, da es für die Bewegungsplanung eine wichtige Rolle spielt.

Im Motorcortex werden Bewegungsabläufe also geplant und automatisiert. In den Pyramidenbahnen werden die Bewegungspläne des Motorcortex über ein komplexes Schaltsystem schließlich umgeschalten und erreichen von hieraus die Willkürmuskulatur. Vor allem die Strecker- und Beugermuskulatur ist an Greifbewegungen beteiligt.

In einem Alter von nur zwei Monaten können Säuglinge die Arme nach etwas ausstrecken. Zu diesem Zeitpunkt können sie aber noch nicht greifen, denn das Ausstrecken des Armes ist noch nicht an Öffnung und Verschluss der Hand gekoppelt. Nach den ersten Greifversuchen festigen sich im Rückenmark Muster der Innervation. Diese Muster entwickeln sich zu variablen und selbstorganisierenden Systemen der Motorik, die fortan weiter geübt werden und immer sicherer werden.

Noch bevor ein Säugling ein halbes Jahr alt ist, greift er mit offener Hand nach Gegenständen, aber die Greifbewegung findet noch mehr oder weniger chaotisch statt. Fortan werden kontinuierlich höhere Ebenen des zentralen Nervensystems in die Greifbewegung mit einbezogen. Für variable Außenbedingungen entwickeln sich von da an spezialisierte Programme der Innervation, die im weiteren Verlauf immer stabiler werden und immer automatischer ausgeführt werden können.


Krankheiten & Beschwerden

Präzisionsbewegungen wie das Greifen sind bei verschiedenen neurodegenerativen Erkrankungen gestört. Ein Beispiel dafür ist Parkinson. Zielgerichtete und willkürliche Greifbewegungen lassen sich im Verlauf von Parkinson immer weniger ausführen. Inklusive der Planung und abschließenden Kontrolle des Greifvorgangs benötigt der Motocortex eines gesunden Patienten rund 800 Millisekunden für das Greifen. Schon im Frühstadium von Parkinson liegen die Werte für Betroffene deutlich über diesen Zahlen.

Auch ein Hirninfarkt kann allerdings das Greifen unmöglich machen. Durch einen Hirninfarkt mit Gefäßverschluss in der mittleren Hirnarterie treten die meisten Läsionen des Motorcortex auf, der für die feinmotorische Planung und Realisierung zuständig ist. Läsionen des Motorcortex können somit das Greifen erschweren, verhindern oder automatisierte Bewegungsmuster sprengen. Lähmungen oder Ataxien sind daher häufige Symptome des Hirninfarkts. Unter Umständen kann das Greifen nach einem Hirninfarkt neu antrainiert werden. Bei Schlaganfällen kann das Gewebe um das geschädigte Gebiet herum durch gezieltes Training zum Beispiel die Aufgaben der defekten Gebiete übernehmen.

Auch Erkrankungen wie Multiple Sklerose können die Greifbewegung deautomatisieren oder lähmen. Nicht nur Entzündungen im Gehirn, sondern auch Entzündungen in den Pyramidenbahnen können im Rahmen der Multiplen Sklerose das motorische System beschädigen. Ungenaue und kraftlose Greifbewegungen können ein frühes Anzeichen für aktuelle Entzündungen in den entsprechenden Arealen sein. Wenn Menschen zum Beispiel häufiger als üblich Dinge aus der Hand fallen oder wenn beim Greifen Gegenstände regelmäßig verfehlt werden, dann wird das zuweilen als dezenter Hinweis auf eine mögliche MS-Diagnose interpretiert.

Quellen

  • Faller, A. et al.: Der Körper des Menschen. Thieme, Stuttgart 2008
  • Pschyrembel: Klinisches Wörterbuch. 266. Auflage. De Gruyter, Berlin 2015
  • Reuter, P.: Springer Lexikon Medizin. Springer, Berlin 2004

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