Protraktion
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 12. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Die Protraktion entspricht in der Anatomie einer Vorwärtsbewegung einzelner Körperstrukturen. Die gegenteilige Bewegung ist die Retraktion. Die vermehrte Protraktion des Kinns etwa kann auf lange Sicht einen Bandscheibenvorfall begünstigen.
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Was ist die Protraktion?
Die Anatomie nutzt unterschiedliche Bewegungsbezeichnungen für gelenknahe Bewegungsabläufe. Einer dieser Begriffe ist die Protraktion. Der Ausdruck entspricht einem Lehnwort aus dem Lateinischen und stammt vom Verb 'protrahere' für 'hervorziehen' oder 'ausdehnen' ab. In der Anatomie meint die Protraktion demnach die Vorwärtsbewegung von Extremitäten und anderweitig beweglichen Körperstrukturen. Die gegenteilige Bewegungsrichtung entspricht der Retraktion.
Der Begriff der Protraktion muss innerhalb der Medizin nicht zwingend in anatomischem Kontext genutzt werden. Ebenso gut kann das Wort im Kontext der Pharmakologie zu Anwendung kommen. Anders als Anatomen verstehen Pharmakologen unter der Protraktion die bewusste Wirkungsverzögerung eines arzneilichen Wirkstoffes.
Mit Zusammenhängen dieser Art beschäftigt sich vor allem die Pharmakokinetik, die neben der Aufnahme von Arzneistoffen (Resorption) die Stoffverteilung im Körper (Distribution), die biochemischen Um- und Abbauprozesse (Metabolisierung) und die Ausscheidungsprozesse (Exkretion) untersucht.
Funktion & Aufgabe
Aus diesem Grund befähigt beispielsweise nicht jedes Gelenk die verbundenen Knochen zu Bewegungen wie der Protraktion. Bei der Protraktion handelt es sich um eine vorwärts gerichtete Bewegung.
In der Anatomie spielt die Protraktion als Bewegungsbezeichnung vor allem im Zusammenhang mit dem Kiefer und dem Schulterblatt eine Rolle. Das Schulterblatt ist der obere Anteil des knöchernen Schultergürtels und steht in gelenkiger Verbindung mit dem Oberarmknochen (Humerus) und dem Schlüsselbein. Der Unterkiefer ist wiederum ein Knochen des Gesichtsschädels, der dem beweglicheren Teil des Kauapparats entspricht.
Das Schulterblatt kann sich in Protraktion und Retraktion begeben, indem es vorwärts und rückwärts in ventrale (bauchseitige) oder dorsale (rückenseitige) Richtung geführt wird. Diese Bewegung ist für den gesamten Arm eine wichtige Bewegungsart. Sobald Menschen ihre Arme nach etwas ausstrecken, ist eine Protraktion des mit dem Oberarmknochen verbundenen Schulterblatts verlangt. Der Arm wird damit verlängert und zielgerichtet auf das Objekt zu gestreckt.
Sowohl Pro- als auch Retraktion des Schulterblatts werden von Muskeln des Schultergürtels durchgeführt. Efferent motorische Nerven verbinden diese Muskeln mit dem zentralen Nervensystem und leiten den Kontraktionsbefehl in Form von bioelektrischer Erregung über die motorische Endplatte auf den Effektormuskel. Die Retraktion verläuft an sich ähnlich, wird allerdings von einem anderen Muskel durchgeführt.
Die Pro- und Retraktionsfähigkeit des Unterkiefers ist wiederum für die Nahrungsaufnahme relevant. Der Oberkieferknochen ist statisch und lässt sich nicht zielführend bewegen. Diese Statik gleicht der bewegliche Unterkiefer aus.
Eine gänzlich andere Definition für den Ausdruck der Protraktion existiert in der Pharmakokinetik. In diesem Zusammenhang spielt das Prinzip der Retard-Arzneiform eine wichtige Rolle. Retard-Medikamente entfalten ihre Wirkung nur verzögert im Organismus, da die Wirkstoffe nur langsam freigesetzt werden. Diese langsame Freisetzung ist beabsichtigt und wird meist für perorale Medikamente genutzt.
Kurzzeitig hohe Blutspiegel der Arzneien werden so verhindert. Die Wirkung von Retard-Medikamenten hält zudem länger und verläuft kontrollierter, so zum Beispiel bei einigen peroral eingenommenen Hormonen und blutdruckregulierenden Arzneien.
Krankheiten & Beschwerden
Der moderne Lebensstil trägt zu Bandscheibenvorfällen auf der Basis von vermehrten Protraktionsbewegungen des Kinnbereichs bei. Beispielsweise zählt der Computer im 21. Jahrhundert sowohl im Freizeit- als auch im Arbeits-Bereich zu einem unersetzlich wichtigen Instrument. Vor dem Bildschirm führt das Kinn jedoch vermehrt Protraktionsbewegungen aus.
Die vorderen Strukturen des Halswirbelsäulenabschnitts werden durch die Protraktion auf Länge gebracht. Dieser Dehnung der vorderen Strukturen steht die gleichzeitige Kompression der hinteren Strukturen entgegen. Damit belastet die fortwährende Protraktion des Kinns vor dem Computer gleichzeitig die hinteren wie vorderen Strukturen der Halswirbelsäule.
Die Folge sind dauerhafte Haltungsschäden und Schmerzsymptomatik. Es kommt zu einer langsam zunehmenden Verlagerung im Bereich der Bandscheiben, die mit einer Kompression des Rückenmarks oder einer Nervenkompression einhergehen kann. Diese Prozesse entsprechen einem Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule, dessen Leitsymptom in die Arme oder bis in die Hinterhauptsregion ausstrahlende Schmerzen sind.
Abhängig von der Kompression der umliegenden Nerven, können Sensibilitätsstörungen oder sogar Lähmungserscheinungen der Arm- und Handmuskulatur auftreten.
Auch die Bandscheibenprotrusion kann ein Symptom von vermehrter Protraktion der Kinnstrukturen sein. Hierbei handelt es sich nicht direkt um einen Bandscheibenvorfall, sondern um eine isolierte Vorwölbung des Bandscheiben-Gallertkerns. Der äußere Faserring der Bandscheibe ist bei diesem Phänomen noch nicht gerissen. Bei einem manifesten Bandscheibenvorfall der Halswirbelsäule reißt der Faserring und lässt den Gallertkern zu den Seiten, nach unten und oben austreten.
Nicht nur übermäßige Protraktion, sondern auch verminderte Protraktionsfähigkeit kann für pathologische Veränderungen sprechen. Das gilt zum Beispiel dann, wenn sich physiologisch eigentlich protraktionsfähige Strukturen nicht mehr in Protraktion bewegen lassen. In der Regel ist dieses Phänomen neuromuskulär bedingt.
Quellen
- Arasteh, K., et. al.: Innere Medizin. Thieme, Stuttgart 2013
- Hahn, J.-M.: Checkliste Innere Medizin. Thieme, Stuttgart 2013
- Wülker, N., Kluba, T., Roetman, B., Rudert, M.: Taschenlehrbuch Orthopädie und Unfallchirurgie. Thieme, Stuttgart 2015