Multiples Pterygium-Syndrom
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 11. November 2021Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Ein multiples Pterygium-Syndrom liegt bei Patienten mit zahlreichen flughautähnlichen Schleimhaut- oder Hautfalten vor. Mehrere Formen werden unterschieden. Eine kausale Therapie existiert bislang nicht.
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Was ist das multiples Pterygium-Syndrom?
„Pterygium“ heißt in der wörtlichen Übersetzung „Flügelfell“. Bei diesem medizinischen Fachbegriff handelt es sich um eine körperliche Anomalie, die durch flughautähnliche Haut- und Schleimhautfalten in Erscheinung tritt. Am häufigsten liegen die Hautfalten seitlich des Halses zwischen dem Warzenfortsatz und dem höchsten Schulterblattanteil.
In dieser Lokalisation ist auch von Pterygium colli die Rede. Das Pterygium kann als Symptom für ein übergeordnetes Krankheitsbild stehen. Das ist zum Beispiel im Rahmen des Ullrich-Turner-Syndroms der Fall. Beim multiplen Pterygium-Syndrom liegen zur selben Zeit mehrere Pterygia vor. Dieses Syndrom kommt in unterschiedlichen Formen vor.
Neben einer autosomal-rezessiven Form kennt die Medizin eine popliteale und eine autosomal-dominante Form. Darüber hinaus existieren ein Typ Frias, ein letaler Typ und ein X-chromosomaler Typ des Syndroms. Ein multiples Pterygium-Syndrom kann so mit grundverschiedenen Symptomen einhergehen und dementsprechend unterschiedlichsten Verlauf besitzen.
Die Prävalenz der einzelnen Typen unterscheidet sich. Im Wesentlichen entsprechen alle Typen des Syndroms aber eher seltenen Erkrankungen, von denen durchschnittlich rund einer aus einer Million betroffen ist.
Ursachen
Neben einem autosomal-rezessiven und einem X-chromosomal-rezessiven Erbgang ist auch der autosomal-dominante Erbgang möglich. Offenbar spielen genetische Defekte für die Erkrankung eine Hauptrolle. Diese Defekte können auf unterschiedlichen Genen liegen und entsprechen verschiedenen Mutationsarten.
Bei der Mutation verändert sich das Erbmaterial in einer bestimmten Lokalisation. Diese Veränderung des Genmaterials hat eine Anomalie der zugeordneten Genprodukte zur Folge. Die einzelnen Genprodukte tragen also nicht mehr ihre physiologisch vorgesehene Form.
Durch diesen Formverlust verlieren sie auch an vorgesehener Funktion. Die Folge sind funktionale Defekte, die sich in Form von Fehlbildungen manifestieren. Was vererbt wird, ist die jeweilige Mutation mit allen assoziierten Fehlbildungen. Für die popliteale Form liegt die Mutation zum Beispiel auf dem IRF6-Gen am Genort 1q32.2.
Symptome, Beschwerden & Anzeichen
So unterschiedlich die Art der Mutation, so unterschiedlich können auch die Symptome von Patienten mit einem multiplen Pterygium-Syndrom ausfallen. Im autosomal-rezessiven Typ manifestiert sich das Syndrom vor allem durch Gesichtsfehlbildungen mit nach unten verlaufenden Lidachsen, prominenter Nasenwurzel, tiefem Nackenhaaransatz und engem Gehörgang.
Kleinwuchs und Schwerhörigkeit sind weitere Symptome. Die Pterygien treten bei diesem Typen am Hals, an den Achseln, an den Fingern oder zwischen Kinn und Brust auf. Außerdem kann ein Klumpfuß mit zusammengewachsenen Zehen vorliegen. Die Wirbelsäule trägt oft Wirbelkörperfehlbildungen und ist verkrümmt (Skoliose).
Außerdem liegen häufig Rippenanomalien und Genitalfehlbildungen vor. Die popliteale Form des Syndroms imponiert dagegen mit multiplen Flügelfellen in den Kniekehlen. Verklebte Lidspalte sowie Lippen-Kiefer-Gaumenspalten und Syndaktylien sind die häufigen Begleitsymptome dieses Typs. Beim Typ Frias besteht in der Regel kein Minderwuchs.
Die letale Form des Syndroms zeigt in den meisten Fällen Pterygien, die die Beweglichkeit einschränken. Darüber hinaus sind bei Patienten mit letalem Typus häufig Fehlbildungen im Bereich des Schädels, Halses, Gesichts sowie der Genitalien und Wirbelkörper zu beobachten.
Diagnose & Krankheitsverlauf
Die Diagnose auf ein multiples Pterygium-Syndrom stellt der Arzt in der Regel unmittelbar nach der Geburt. Meist stellt sich die Verdachtsdiagnose rein blickdiagnostisch. Die charakteristischen Flügelfelle der Patienten sind ein äußerst spezifisches Phänomen und geben damit auf den ersten Blick handfeste Hinweise auf die Erkrankung.
Die Einordnung von Verlauf und Schwere kann oft nicht blickdiagnostisch erfolgen, sondern erfordert eine umfangreichere Diagnostik mit spezifischen Untersuchungen wie Bildgebungen. Die Prognose der Patienten hängt im Einzelnen von den vorliegenden Symptomen und ihrem Schweregrad ab. Neben letalen Verlaufsformen sind auch Verlaufsformen ohne direkte Beeinträchtigung der Lebenserwartung bekannt.
Komplikationen
Durch das Pterygium-Syndrom wird die Lebensqualität des Betroffenen erheblich eingeschränkt. Es kommt weiterhin auch zur Ausbildung einer sogenannten Gaumenspalte. Auch die Beweglichkeit des Patienten kann in vielen Fällen eingeschränkt und verringert sein. Die Fehlbildungen können dabei auch den Hals oder den Schädel betreffen. Nicht selten sind durch das Pterygium-Syndrom auch die Genitalien in Mitleidenschaft gezogen, sodass es eventuell zu Einschränkungen beim Geschlechtsverkehr kommt.
Die Behandlung des Pterygium-Syndroms erfolgt durch operative Eingriffe. Damit können die meisten Beschwerden und Fehlbildungen relativ gut eingeschränkt werden. Besondere Komplikationen treten bei diesen Behandlungen in der Regel nicht auf. In vielen Fällen sind allerdings auch psychologische Behandlungen notwendig, um Depressionen zu vermeiden oder zu behandeln. Die Lebenserwartung des Patienten wird durch das Pterygium-Syndrom allerdings nicht beeinflusst.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Wenn Symptome wie Kleinwuchs oder Schwerhörigkeit bemerkt werden, ist ein Arztbesuch nötig. Betroffene Personen werden meist bereits kurz nach der Geburt untersucht, dabei kann die Krankheit eindeutig diagnostiziert werden. Bei leicht ausgeprägten Syndromen kann eine Diagnose allerdings erst später erfolgen. Die Patienten konsultieren dann meist aufgrund unspezifischer Beschwerden den Arzt, etwa aufgrund einer Lippen-Kiefer-Gaumenspalte oder aufgrund einer Einschränkung der Beweglichkeit. Weiterhin sollte ein Arzt aufgesucht werden, wenn die Beschwerden stärker werden oder es während der Behandlung zu Komplikationen kommt.
Das Multiple Pterygium-Syndrom wird von dem Hausarzt oder einem Internisten behandelt. Zur Behandlung der einzelnen Symptome können außerdem verschiedene Fachärzte hinzugezogen werden. So muss mit einem Klumpfuß zu einem Orthopäden gegangen werden, während Fehlbildungen der Genitalien von einem Proktologen, Urologen oder einem Gynäkologen untersucht und gegebenenfalls behandelt werden. Da die Erkrankung in den allermeisten Fällen mit psychischen Beschwerden einhergeht, wird der zuständige Arzt meist auch eine therapeutische Beratung vorschlagen.
Behandlung & Therapie
Eine kausale Therapie steht für Patienten mit dem multiplen Pterygium-Syndrom bislang nicht zur Verfügung. Kausale Therapieformen setzen an der Ursache an. Die Beseitigung des Auslösers führt in Verlauf einer kausalen Therapie zur absoluten und dauerhaften Symptomfreiheit.
Da die Ursache des Syndroms in einer genetischen Mutation liegt, müsste eine kausale Behandlung der Erkrankung an den Genen ansetzen. Gentherapeutische Ansätze haben die klinische Phase bislang allerdings nicht erreicht. Nichtsdestotrotz haben Wissenschaftler im vergangenen Jahrzehnt Fortschritte in der Gentherapie verzeichnet, die in Zukunft möglicherweise eine ursächliche Therapie für genetisch bedingte Mutationen bedeuten könnten.
Da dieses Stadium bis zum gegenwärtigen Zeitpunkt unerreicht ist, werden Patienten mit multiplem Pterygium-Syndrom bisher rein symptomatisch und supportiv behandelt. Im Fokus der symptomatischen Behandlung steht die chirurgische Behebung aller lebensgefährlichen Fehlbildungen. Starke Rippenfehlbildungen können beispielsweise die Lunge und das Herz einengen und müssen in diesem Fall über invasive Eingriffe aufgeweitet werden.
Die Skoliose kann wiederum Schweregrade erreichen, die eine starke Beeinträchtigung der Lebensqualität zur Folge haben. Zur Verbesserung der Lebensqualität wird die Erscheinung oft mittels Korsettkonstruktionen behandelt. Grundsätzlich hängt die Therapie stark von den Symptomen im Einzelfall ab. Oft steht Patienten und Angehörigen auf Seiten der supportiven Maßnahmen psychotherapeutische Betreuung zur Verfügung.
Aussicht & Prognose
Die Ursache für ein multiples Pterygium-Syndrom liegt im menschlichen Erbgut. Die kausalen Auslöser der Erkrankung können nach derzeitigem medizinischem Stand nicht behoben werden. Es wird sich zeigen, inwiefern die Wissenschaft in absehbarer Zukunft Fortschritte erzielt. Das multiple Pterygium-Syndrom führt in jedem Fall zu einer Reduzierung der Lebensqualität.
Fehlbildungen müssen teils mit chirurgischen Eingriffen korrigiert werden, wobei die Ergebnisse nicht immer zufriedenstellend verlaufen. Beschwerden liegen nicht selten während des gesamten Lebens vor. Ambulante Therapiemaßnahmen und Hilfsmittel sind fortwährend einzusetzen. Das multiple Pterygium-Syndrom kommt sehr selten vor. Forscher stellen es bei einem aus einer Millionen Menschen fest. Die starken Fehlbildungen gehen meist mit einer deutlich verkürzten Lebenszeit einher. Dabei spielt das Ausmaß der Anzeichen eine wichtige Rolle. Auch tragen die Ärzte einen wichtigen Beitrag zum Weiterleben bei, wenn sie Organe erhalten.
In einigen Fällen erreichen erkrankte Kinder noch nicht einmal das Kinder- und Jugendalter. Verzichten Patienten auf eine Behandlung wirken sich die Fehlbildungen meist so negativ aus, dass nach einiger Zeit der Tod eintritt. Gerade die Eltern leiden oft an der psychisch belastenden Situation.
Vorbeugung
Dem multiplen Pterygium-Syndrom lässt sich bislang nur über Feinultraschall vorbeugen. Die Fehlbildungen sind im Feinultraschall oft schon in frühen Stadien der Schwangerschaft erkennbar. Paare können sich nach dem Befund gegebenenfalls für einen Schwangerschaftsabbruch entscheiden.
Nachsorge
Da es sich bei dem multiplen Pterygium-Syndrom um eine genetisch veranlagte Krankheit handelt, gibt es kaum eine Möglichkeit zur Nachsorge. Es sind lediglich symptomatische Therapien für die Krankheit vorgesehen, um das Leben von Neugeborenen zu vereinfachen. Daneben können durch Eltern oder Verwandte Massagen oder Entspannungstechniken bei dem Betroffenen angewandt werden.
Auch Klang- und Geruchstherapien können bei Neugeborenen zur Schmerzlinderung führen. Die Neugeborenen sollten sich Aktivitäten unterziehen und mit Gegenständen und Kinderliedern konfrontiert werden. Dadurch, dass nicht alle Areale im Gehirn von der Krankheit betroffen sind, können diese Aktivitäten dem Betroffenen Kind trotz schwerwiegender Erkrankung helfen. Das wichtigste der Nachsorge ist jedoch das physische und psychische Wohlbefinden der Eltern und Angehörigen.
Die Erkrankung bringt eine hohe Belastung mit sich und kann daher zu schweren psychischen Störungen der Angehörigen führen. Das Wohlbefinden der Familienmitglieder sollte daher ebenso im Mittelpunkt stehen wie das schwer kranke Kind. Dadurch wird die Lebensqualität des Neugeborenen erheblich verbessert. Die Familie kann dem betroffenen Kind so ein erlebnisreiches restliches Leben bieten und eine richtige Stütze sein. Weitere Möglichkeiten zur Nachsorge gibt es bei dem multiplen Pterygium-Syndrom nicht.
Das können Sie selbst tun
Da es sich beim multiplen Pterygium-Syndrom um eine genetische Erkrankung handelt, bestehen kaum Möglichkeiten zur Selbsthilfe. Dies kann lediglich aus symptomatischen Therapien bestehen. Solche beinhalten Maßnahmen, um die Lebensqualität des Neugeborenen zu verbessern.
Neben medizinischen Behandlungen können diese aus Massagen und Entspannungstechniken bestehen, die durch die Eltern und Verwandten angewendet werden können. Auch weitere alternative Methoden wie Geruchs- und Klangtherapien können zur Schmerzlinderung und Stimulation des Kleinkindes herangezogen werden. Kindliche Aktivitäten und Gegenstände, wie Spielzeug und Kinderlieder werden von den Neugeborenen wahrgenommen und verarbeitet. Da nicht alle Gehirnareale von der Krankheit betroffen sind, können solche Behandlungen den Kindern trotz der schwerwiegenden Erkrankung zugutekommen.
Wichtig bei der Pflege erkrankter Kinder ist jedoch auch die Selbstfürsorge der Eltern und Angehörigen. Die extreme Belastungssituation, die die schwere Erkrankung der Neugeborenen darstellt, kann eine extreme physische und psychische Belastung für die Familie darstellen. Daher sollte beim Thema Selbsthilfe auch stets das eigene Wohlergehen der betreuenden Angehörigen im Mittelpunkt stehen. Nur so können diese eine Stütze darstellen und die Lebenszeit des Kindes so schön wie möglich gestalten.
Quellen
- Bork, K., Burkdorf, W., Hoede, N.: Mundschleimhaut- und Lippenkrankheiten. Schattauer, Stuttgart 2008
- Dirschka, T., Hartwig, R.: Klinikleitfaden Dermatologie. Urban & Fischer, München 2011
- Moll, I.: Dermatologie. Thieme, Stuttgart 2010