SSRI-Absetzsyndrom

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 5. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

Sie sind hier: Startseite Krankheiten SSRI-Absetzsyndrom

Das SSRI-Absetzsyndrom, ein spezifisches Entzugssyndrom, tritt während des Absetzens beziehungsweise einer Verringerung der Dosis oder nach dem Beenden der Einnahme von Antidepressiva (SSRI) auf. Charakteristisch für das SSRI-Absetzsyndrom ist, dass sich bestimmte körperliche oder psychische Entzugssymptome entwickelt. Auch beides ist möglich. Bei einer erneuten Einnahme des Antidepressivums in der gewohnten Menge klingen die Beschwerden schnell wieder ab.

Inhaltsverzeichnis

Was ist das SSRI-Absetzsyndrom?

Aufgrund des Serotonin-Mangels kann es bei vielen Menschen zu Schlafstörungen und gelegentlich auch zu Magen-Darm-Beschwerden kommen, zum Beispiel Durchfall oder Verstopfung.
© 1STunningART – stock.adobe.com

Beim SSRI-Absetzsyndrom handelt es sich um einen Symptomkomplex, welcher beim plötzlichen Absetzen der SSRI, einem Selektiven Wiederaufnahmehemmer, auftritt. Aufgrund der langfristigen Gabe von SSRI, dem am häufigsten eingesetzten Antidepressivum, kommt es im Liquor zur erhöhten Konzentration an Serotonin. Daraus entwickelt sich im Körper eine Toleranz, da sich der Organismus an die erhöhten Serotonin-Werte entsprechend anpasst.

Werden die SSRI schlagartig nicht mehr eingenommen, führt dies zu einem Serotoninmangel. In der Folge entstehen die Symptome, die jedoch nicht mit einer Suchtreaktion zu vergleichen sind, da die SSRI nicht süchtig machen. In der Übergangsphase, in der die Entzugssymptome auftreten, entsteht ein neues Gleichgewicht. Diese Phase kann unterschiedlich lang sein und die Symptome sind ebenso verschieden stark ausgeprägt.

Ursachen

Wie genau das SSRI-Absetzsyndrom ausgelöst wird, ist noch nicht hinreichend geklärt. Es wird eine Homöostase-Störung vermutet, also, dass aufgrund der dauernden Einnahme der SSRI ein künstlicher stabiler Zustand entsteht. Fällt das Antidepressivum jedoch weg, gerät der Körper in ein Ungleichgewicht. Als Auslöser der Symptome gilt die Störung im Hormonhaushalt, die durch den Entzug der SSRI verursacht wird.

Serotonin, der Botenstoff, und seine Rezeptoren haben zahlreiche Funktionen im Körper, wodurch die vielen verschiedenen Entzugssymptome erklärt sind. Der Serotonin-Transporter wird nach dem Absetzen des Medikaments nicht mehr blockiert, sodass das Serotonin wieder verstärkt in die Nervenzelle aufgenommen wird und die Serotonin-Konzentration relativ plötzlich sinkt. Die Rezeptoren verändern sich nicht sofort, denn diese Prozesse erfordern Tage bis Wochen.

Es entsteht demzufolge ein Ungleichgewicht, was zu den Symptomen führt. Die Erwartungen und Ängste des Betroffenen spielen als Auslöser keine Rolle, aber sie haben einen Einfluss darauf, wie das SSRI-Absetzsyndrom erlebt, empfunden und bewältigt wird. Auch die Dauer der Einnahme des Antidepressivums kann die Entstehung des SSRI-Absetzsyndroms begünstigen. Ab vier Wochen besteht die Gefahr, dass sich bei einer beendeten Zufuhr des Stoffes das SSRI-Absetzsyndrom entwickelt.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Das SSRI-Absetzsyndrom geht mit verschiedenen körperlichen und/oder psychischen Beschwerden einher. Dazu gehören Schlafstörungen, denn Serotonin reguliert den Schlaf. Da der Botenstoff Serotonin zudem auf den Magen-Darm-Trakt wirkt und es in der Darmschleimhaut zahlreiche Serotonin-Rezeptoren gibt, kann es außerdem zu Durchfall oder einer Verstopfung kommen, wenn das Antidepressivum plötzlich abgesetzt wird.

Weitere Symptome, die beim SSRI-Absetzsyndrom auftreten können, sind Kreislaufbeschwerden, Schwindel, Gleichgewichtsstörungen, Empfindungsstörungen, ein körperliches Unwohlsein, Stimmungsschwankungen, Muskelkrämpfe, ein aggressives Verhalten, eine schwere Depression, Manie bis hin zu Suizidgedanken.

Bei einigen Patienten, vor allem bei einer Langzeitmedikation oder einer hohen Dosis, ist es außerdem möglich, dass auch, nachdem das SSRI-Absetzsyndrom beendet ist, Langzeitsymptome auftreten, beispielsweise eine leichtere Verwirrtheit, ein schlechtes Kurzzeitgedächtnis, Konzentrationsprobleme und Tinnitus.

Auch schwere Symptome wie eine psychomotorische Unruhe, eine Depersonalisation, eine sexuelle Dysfunktion und extreme Angstzustände sind möglich. Laut Berichten von Patienten sollen sich die Langzeitsymptome beim SSRI-Absetzsyndrom in der Regel innerhalb von zwei Jahren nach dem Absetzen der SSRI signifikant verbessern.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Wenn der Verdacht besteht, dass ein SSRI-Absetzsyndrom vorliegt, ist es möglich, die Diagnose mit der Hilfe einer validierten Symptome-Checkliste (DESS) zu sichern. Diese wurde in klinischen Studien entwickelt und hilft effektiv dabei, die Absetzsymptome korrekt zu erfassen. Hierfür empfiehlt es sich, die Liste bereits abzuarbeiten, bevor die SSRI abgesetzt werden.

Anschließend können die Aussagen mit den Symptomen, die nach dem Absetzen des Antidepressivums auftreten, gut verglichen werden. Dies dient dem Ziel, eine Verzerrung durch eine mangelnde Erinnerung des Patienten zu vermeiden. Wenn mindestens drei Absetzsymptome neu auftreten oder sich verschlimmern, liegt das SSRI-Absetzsyndrom vor.

Komplikationen

Das SSRI-Absetzsyndrom hat verschiedene körperliche und psychische Beschwerden zur Folge. Aufgrund des Serotonin-Mangels kann es bei vielen Menschen zu Schlafstörungen und gelegentlich auch zu Magen-Darm-Beschwerden kommen, zum Beispiel Durchfall oder Verstopfung. Im weiteren Verlauf können außerdem Kreislaufbeschwerden sowie Gleichgewichts- und Empfindungsstörungen auftreten, die das Risiko für Unfälle und Stürze erhöhen.

Mögliche psychische Komplikationen sind Stimmungsschwankungen bis hin zu manischen Depressionen und Suizidgedanken. Auch extreme Angstzustände, Depersonalisation und eine sexuelle Dysfunktion sind möglich. Bei einigen Patienten zieht das SSRI-Absetzsyndrom Spätfolgen wie Konzentrationsprobleme, Tinnitus und ein schlechteres Kurzzeitgedächtnis nach sich. Meist bleiben diese Langzeitsymptome ein bis zwei Jahre bestehen, bevor sie nach und nach abklingen.

Im Rahmen der Behandlung sind schwerwiegende Komplikationen eher unwahrscheinlich. Die typischerweise verordneten Medikamente rufen gelegentlich aber Nebenwirkungen hervor. So können Benzodiazepine zu Gedächtnis-, Wahrnehmungs- und Reaktionsfähigkeitsstörungen führen. Auch Kopfschmerzen und Benommenheit gehören zu den typischen Beschwerden.

Zudem ist die Gefahr einer Medikamentenabhängigkeit gegeben. Ein schnelles Absetzen der Medikamente kann psychische Störungen wie depressive Verstimmungen oder Manie hervorrufen. Der Einsatz von Antidepressiva kann Abgeschlagenheit, Persönlichkeitsveränderungen und gelegentlich auch Magen-Darm-Beschwerden bedingen.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Beim SSRI-Absetzsyndrom ist immer eine Behandlung durch einen Arzt notwendig. Es kann dabei nicht zu einer Selbstheilung kommen, sodass eine Behandlung durch einen Arzt unerlässlich ist. Nur dadurch können weitere Komplikationen verhindert und eingeschränkt werden. Ein Arzt ist dann aufzusuchen, wenn der Betroffene die gewöhnlichen Entzugserscheinungen des Medikamentes aufweist. Dabei kommt es häufig zu Durchfall oder zu Verstopfungen, wobei auch starke Schlafbeschwerden eintreten können. Sollten diese Symptome eintreten, so ist auf jeden Fall ein Arzt aufzusuchen.

Auch Schwindelgefühle oder Krämpfe in den Muskeln können auf das SSRI-Absetzsyndrom hindeuten und sollten durch einen Arzt untersucht werden. Die Betroffenen weisen auch nicht selten eine Verwirrtheit oder einen Tinnitus auf. Auch Angstzustände können auf das Syndrom hinweisen und müssen durch einen Arzt untersucht werden.

Die Diagnose und Behandlung des SSRI-Absetzsyndroms findet meist durch einen Psychologen statt. Ob es dabei zu einer vollständigen Heilung kommt, kann nicht universell vorausgesagt werden. Die Lebenserwartung wird jedoch meist nicht eingeschränkt.

Behandlung & Therapie

Die Behandlung der Symptome hängt davon ab, in welchem Schweregrad das SSRI-Absetzsyndrom die Entzugserscheinungen auslöst. Ebenso eine Rolle spielt, ob nach dem Absetzen des SSRI eine weitere Behandlung mit Antidepressiva vorgesehen ist. In letzterem Fall führt das Wiedereinsetzen der Medikation meistens zum Erfolg.

Bei den Patienten, die kein Antidepressivum mehr einnehmen, richtet sich die Therapie nach der Schwere der Symptome. Bei leichten Fällen können eine Beruhigung und Entspannung hilfreich sein. Bei mittelschweren Entzugserscheinungen wird häufig mit Benzodiazepinen behandelt.

In Fällen, bei denen das SSRI-Absetzsyndrom schwere Symptome auslöst, kann es Erfolg bringen, wenn die Medikation erneut eingesetzt wird und die SSRI später in kleineren Schritten wieder abgesetzt werden. Auch die Umstellung auf ein langwirksames SSRI, das besser abgesetzt werden kann, ist oftmals eine Hilfe.


Vorbeugung

Das SSRI-Absetzsyndrom ist dadurch vorzubeugen, dass Antidepressiva generell niemals abrupt abgesetzt werden sollten. Grundsätzlich muss die Behandlung mit dem Medikament ausschleichend beendet werden. Dies bedeutet, dass die Dosis vor der Beendigung schrittweise zu verringern ist.

Es wird im Allgemeinen eine Mindestdauer des Ausschleichens der SSRI von zwei bis vier Wochen empfohlen. Dieses Ausschleichen verringert die Wahrscheinlichkeit, dass das SSRI-Absetzsyndrom auftritt, allerdings ist es damit nicht sicher zu verhindern.

Nachsorge

Die Nachsorge des SSRI-Absetzsymdroms richtet sich nach dem Schweregrad der Entzugserscheinungen. Wenn diese nur leicht sind, helfen Entspannungsmethoden. Bei mittlerem Schweregrad sollten sich die Patienten an die Arztempfehlungen zur Einnahme der Benzodiazepine halten. Bei schweren Fällen raten die Ärzte oft zur erneuten Einnahme der Medikamente. Dabei ist es sehr wichtig, sich genau an die empfohlene Medikation zu halten.

Die spätere Absetzung erfolgt in kleinen Schritten. Gegebenenfalls kann der Arzt eine Nachsorgebehandlung mit Antidepressiva vorschlagen. Von einem abrupten Absetzen ist grundsätzlich abzuraten, sodass die Patienten mit einer Absetzphase von zwei bis vier Wochen rechnen müssen. Sie benötigen also Geduld, um das Syndrom nach Möglichkeit zu verringern. Durch sportliche Betätigung, am besten im Freien, fühlen sie sich abgelenkt und nehmen die Symptome nicht mehr so deutlich wahr.

Sport hilft gleichzeitig dabei, den Stoffwechsel zu regulieren. Die Aktivierung von Serotonin führt zu einer besseren Stimmung der Betroffenen, gleichzeitig gewinnen sie wieder mehr Kontrolle über ihren Körper. Häufig leiden die Patienten unter Schlafmangel, doch durch die Aktivitäten an der frischen Luft werden sie eher müde und können entsprechend leichter zur Ruhe finden und einschlafen. Regelmäßige Ruhezeiten fördern den geregelten Schlafrhythmus.

Das können Sie selbst tun

Bei einem klar diagnostizierten SSRI-Absetzsyndrom wird der behandelnde Arzt beziehungsweise Psychologe symptomorientiert behandeln und gegebenenfalls, je nach Schwere der Beschwerden, Medikamente verordnen. Möglicherweise wird er auch erneut ein SSRI empfehlen, das sich nach einer gewissen Behandlungszeit leichter wieder absetzen lässt.

Patienten, die aber künftig konsequent auf ein SSRI verzichten möchten, sollten viel Geduld mitbringen, da es eine relativ lange Zeit dauern kann, bis der Serotoninhaushalt im Körper ohne Medikamenteneinfluss wieder ausgeglichen ist. Am hilfreichsten bei einem SSRI-Absetzsyndrom sind Sport und viel Bewegung an der frischen Luft. Zum einen lenken sportliche Aktivitäten von den Symptomen ab, zum anderen wird durch Sport der Stoffwechsel reguliert und die Serotoninproduktion aktiviert. Das verbessert sowohl die Stimmung als auch das Körperbewusstsein.

Gleichzeitig macht ausreichend Sport müde, was gerade für die Patienten hilfreich ist, die als Symptom unter Schlafmangel leiden. Für sie gilt zudem, sich regelmäßige Ruhezeiten einzurichten und stets zur gleichen Zeit zu Bett zu gehen. So findet ihr Körper nach einiger Zeit wieder zu einem geregelten Schlaf- und Wachrhythmus.

Neuesten Forschungen zufolge hilft auch eine gesunde Ernährung bei Störungen im Serotoninhaushalt und der daraus resultierenden Depressionsneigung.

Quellen

  • Dilling, H., Mombour, W., Schmidt, M.H.(Hrsg.): Internationale Klassifikation psychischer Störungen – ICD 10, Kapitel V (F), klinisch-diagnostische Leitlinien. Huber, Bern 2011
  • Lieb, K., Frauenknecht, S., Brunnhuber, S.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer, München 2015
  • Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015

Das könnte Sie auch interessieren