Selektive Wahrnehmung

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 11. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Selektive Wahrnehmung basiert auf dem natürlichen Mechanismus, mit dem das menschliche Gehirn nach Mustern in seiner Umgebung sucht. Aufgrund des selektiven Charakters nehmen Menschen eher das wahr, was sich in ein Muster einfügen lässt. Klinische Relevanz erhält die Selektivität der Wahrnehmung zum Beispiel im Rahmen einer Depression.

Inhaltsverzeichnis

Was ist die selektive Wahrnehmung?

Selektive Wahrnehmung basiert auf dem natürlichen Mechanismus, mit dem das menschliche Gehirn nach Mustern in seiner Umgebung sucht.

Das menschliche Gehirn arbeitet mit Mustern. Evolutionsbiologisch gesehen hat die menschliche Fähigkeit der Mustererkennung bedeutend zum Überleben beigetragen. Über Mechanismen der Mustererkennung hat das Gehirn die Umwelt vorhersehbarer und damit ungefährlicher gemacht. Die Suche nach Mustern ist bis heute ein grundlegender Mechanismus des menschlichen Gehirns und spiegelt sich in Vorgängen wie der Wahrnehmung wieder.

Die selektive Wahrnehmung entspricht einem psychologischen Phänomen, das nur gewisse Aspekte der Umwelt ins Bewusstsein übertreten lässt. Würden alle Aspekte einer Situation ins Bewusstsein übertreten, bestünde Chaos. Das Gehirn könnte mit der Informationsfülle nicht effektiv arbeiten und ist daher darauf angewiesen, permanent Reize auszublenden. Perzepte (das Wahrgenommene) sind damit nicht gleich die Realität, sondern lediglich ein subjektiver Teileindruck daraus.

Bestimmte Sinnesreize werden bei der Wahrnehmung hervorgehoben. Die Wahrnehmung besteht damit aus Priming, Framing und vielen ähnlichen Effekten. Das menschliche Gehirn sucht in der Umwelt also nach Mustern, erkennt diese Muster und betont sie. Aus diesem Grund wird eher wahrgenommen, was einem bestimmten Muster entspricht. Reize aus dem Wahrnehmungsprozess werden eher vom Gehirn betont, wenn sie sich in ein Muster einbetten lassen. Selektive Wahrnehmung entspricht damit der unbewussten und automatischen Suche nach Mustern, die das menschliche Gehirn permanent betreibt.

Funktion & Aufgabe

Menschen hören zB in einer Diskussion erwiesenermaßen eher die Argumente, die ihre eigene Position stützen. Sie sehen erwiesenermaßen eher die Dinge, die ihnen aus dem eigenen Umfeld vertraut sind. Die menschliche Wahrnehmung arbeitet als Schutz vor Reizüberlastung mit verschiedenen Filtern. Diese Filter entsprechen zu einem großen Anteil den eigenen Interessen, Wertvorstellungen, Meinungen und den eigenen Erfahrungen mit der Welt.

Dieses Prinzip der selektiven Wahrnehmung ist auf die Mustersuche des Gehirns zurückzuführen. Die Auswahl aller wahrgenommenen Sinneseindrücke ist aufgrund dieser Mustersuche von Erfahrungen und Erwartungen geprägt. Wer beispielsweise einen Artikel über Rechtschreibung liest, wird in diesem Artikel automatisch eher auf die Korrektheit der Rechtschreibung achten. Wer mit einer schlechten Meinung von den Menschen durch die Stadt geht, wird sich eher den einen Vorfall merken, der diese Meinung bestätigt und die Dutzend Vorfälle entgegen dieser Meinung ausblenden. Wer sich gerade einen Smart gekauft hat, sieht im Straßenverkehr plötzlich überall Smarts. Wer gerade ein Kind bekommen hat, hört im Alltag umso mehr Kinder schreien. Wahrnehmung ist immer selektiv.

Aus diesem Grund nehmen zwei verschiedene Personen eine Situation unter keinen Umständen gleich wahr. Ihre Vorgeschichte bestimmte, was sie aus einer Situation betont aufnehmen.

Das Filtern von Sinnesreizen ist für alle Lebewesen eine Überlebensvoraussetzung. Permanent strömen mehr Reize auf ein Individuum ein, als die Sinneszellen aufnehmen und ins zentrale Nervensystem weiterleiten könnten. Die meisten Reizfilter sind situativ. Wahrnehmung ist aus diesem Grund immer kontextbezogen. Reizfilter wie Interessen sind weniger situativ, aber helfen dennoch bei der Wahrnehmung des Relevanten.

Mit der Reizfilterung werden Sinneseindrücke klassifiziert. Diese Klassifizierung beginnt bereits im Sinnesorgan und setzt sich im Zentralnervensystem als selektive Wahrnehmung fort. Die Grundlage der selektiven Wahrnehmung ist ein bestimmtes Bedürfnis, so zum Beispiel Hunger. Einem Menschen mit Hunger werden durch die selektive Wahrnehmung Bäckereien und Wirtschaften auf dem Silbertablett präsentiert, da der Hunger dort erfahrungsgemäß zur Befriedigung gebracht werden kann.


Krankheiten & Beschwerden

Grundsätzlich ist die selektive Wahrnehmung nicht pathologisch, sondern zählt zu den natürlichen Realitätsfiltern und ist damit ein normaler Realitätsbezug. Die selektive Wahrnehmung kann aber durchaus pathologische Formen annehmen und Erkrankungen begünstigen. Vor allem seelische Erkrankungen gehen oft auf selektive Wahrnehmungsstörungen zurück. So kann beispielsweise ein traumatischer Vorfall in der Vergangenheit dazu führen, dass der Betroffene ein extrem negatives Bild von seinen Mitmenschen hat und in ihren Aussagen nur mehr Negatives hört. Solche Wahrnehmungsstörungen spielen beispielsweise für Erkrankungen wie Depressionen oder Essstörungen eine Rolle. Depressive Menschen nehmen durch eine schwarze Brille wahr.

Auch kulturell und sozial bedingte Denkgewohnheiten sind ein großer Filter und wirken sich auf die Wahrnehmung aus, indem sie zu einer Selektion aus allen wahrnehmbaren Reizen führen. Vorwiegend wird das wahrgenommen, was in das Denkmuster passt. Wenn das Individuum Denkmuster ungeprüft übernimmt, schränkt sich seine Wahrnehmungsfähigkeit stark ein und kann auch so psychische Erkrankungen begünstigen, etwa wenn die als richtig erlernten Denkmuster nicht mit der eigenen gefühlten Wahrheit übereinstimmen.

Nicht nur zu eng gesetzte Filter können das seelische Wohl beeinträchtigen. Auch zu offene Filter spielen für psychische Erkrankungen eine Rolle. Bei vielen Psychosen funktionieren die Wahrnehmungsfilter nicht mehr. Die Betroffenen sind dünnhäutig und nicht mehr zur Trennung von Innen- und Außenwelt in der Lage. Innere Konflikte nehmen die Patienten häufig als Manifestationen in der Außenwelt wahr und Äußerem stehen sie schutzlos gegenüber. Für annähernd jede psychische Erkrankung spielen Wahrnehmungsstörungen oder Verzerrungen eine Rolle. Klinisch hohe Relevanz erhält die selektive Wahrnehmung aus diesem Grund auf dem Gebiet der Psychologie.

Quellen

  • Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
  • Davison, G.C., Neale, J.M., Hautzinger, M.: Klinische Psychologie. Beltz PVU, München 2007
  • Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015

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