Hypoglycaemia factitia

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 13. April 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

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Die Hypoglycaemia factitia ist eine Unterzuckerung mit den charakteristischen Symptomen, die vom Patienten mit volle Absicht herbeigeführt wird. Meist handelt es sich bei den Betroffenen um Menschen mit einem Münchhausen-Syndrom. Neben der symptomatischen Behandlung der Hypoglykämie muss eine kausal therapeutische Behandlung erfolgen, um die Patienten vor sich selbst zu schützen.

Inhaltsverzeichnis

Was ist Hypoglycaemia factitia?

Patienten mit Hypoglycaemia factitia leiden an den charakteristischen Symptomen einer Hypoglykämie. Durch die Adrenalinausschüttung zittern sie stark, sie schwitzen und leiden an Herzrasen.
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Bei einer Hypoglykämie sinkt die Blutglukose-Konzentration im Blut unter einen physiologisch vorgesehenen Normwert von 60 mg/dl, also 3,3 mmol/l. Bei Neugeborenen gilt ein Wert von 45 mg/dl oder 2,5 mmol/l bereits als kritische Grenze. Hypoglykämien manifestieren sich in Form einer gestörten Regulation von Glucose-Abgabe der Leber und der Glucose-Aufnahme in die verbrauchenden Organe.

Aufgrund einer reaktiven Adrenalinausschüttung treten bei der Hypoglykämie Symptome wie Zittern, Schwitzen, Herzrasen und Heißhunger auf. Neuroglykopenische Zeichen aufgrund von Glucose-Mangel im zentralen Nervensystem manifestieren sich oft in Form von Benommenheit, Sprachstörungen, Sehstörungen, Parästhesien oder atypischem Verhalten. Extreme Hypoglykämien gehen mit Koma einher.

Die Hypoglycaemia factitia ist eine selbst induzierte Hypoglykämie. Bei dem Krankheitsbild lässt die Selbstverabreichung von blutzuckersenkenden Substanzen den Blutzucker weit absinken. Die Patienten senken ihren Blutzucker absichtlich auf gefährliche Werte ab, obwohl sie nicht an Diabetes leiden und so mit der Einnahme von Antidiabetika eine Hypoglykämie riskieren. Die Unterzuckerung ist von den Patienten also gewollt, obwohl oder gerade weil sie pathologisch ist.

Ursachen

Die Hypoglycaemia factitia tritt in der Regel im Rahmen eines Münchhausen-Syndroms auf. Die Betroffenen dieses psychischen Krankheitsbilds täuschen regelmäßig Beschwerden vor, um bei Aufenthalten im Krankenhaus die damit assoziierte Zuwendung zu erhalten. Häufig tritt diese Art der Störung an Personen auf, die chronisch kranken Menschen nahestehen.

Als eine Sonderform gilt das Münchhausen-by-proxy-Syndrom, bei dem Eltern von ihren gesunden Kindern die Vorspiegelung von Symptomen verlangen. Die Ätiologie des Syndroms ist bislang unbekannt. Eventuell spielt psychische Deprivation für das Syndrom eine ursächliche Rolle. In den meisten Fällen der Hypoglycaemia factitia erreichen die Betroffenen die gewollte Hypoglykämie durch Antidiabetika.

Da sie keine Diabetiker sind, führt die Einnahme der blutzuckersenkenden Mittel bei ihnen zu einer oftmals gefährlichen Unterzuckerung mit den charakteristischen Symptomen. Das Krankheitsbild unterscheidet sich von unwillentlich herbeigeführten Unterzuckerungen durch die psychische Komponente. Die Diagnose gestaltet sich relativ schwierig, da sie den Nachweis über die willentliche Provokation der Hypoglykämie erfordert.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Patienten mit Hypoglycaemia factitia leiden an den charakteristischen Symptomen einer Hypoglykämie. Durch die Adrenalinausschüttung zittern sie stark, sie schwitzen und leiden an Herzrasen. Neben Heißhunger tritt Blässe ein. Wegen des Glucose-Mangels in ihrem zentralen Nervensystem fühlen sich die Patienten benommen und verwirrt.

Sie leiden an Sprachstörungen und Sehstörungen wie Doppelbildern. Laut ihrer Nahestehenden zeigen sie atypisches Verhalten. Darüber hinaus können Empfindungsstörungen wie Taubheit oder psychotische Episoden und sogar Delirium eintreten. Bei Abfall des Blutzuckers unter 40 mg/dl treten Krampfanfälle und Bewusstlosigkeit auf. Außerdem sind Hypoglykämien mit unspezifischen Begleitsymptomen wie Nausea, mehr oder weniger starkem Schwindel und Kopfschmerzen vergesellschaftet.

Das klinische Bild von Patienten mit Hypoglycaemia factitia unterscheidet sich nicht von der Hypoglykämie. Das einzige Differenzierungskriterium ist die willentliche Herbeiführung der Symptome, das heißt, der Wunsch, aufgrund von Unterzuckerung die beschriebenen Symptome zu durchleiden.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Die Diagnose einer Hypoglycaemia factitia stellt den Arzt vor eine große Herausforderung. Die Patienten werden nicht zugeben, dass sie die Unterzuckerung absichtlich herbeigeführt haben. Ein entsprechender Verdacht kann durch die Anamnese bestehen.

Bei Menschen mit einem diagnostizierten Münchhausen-Syndrom denkt der Arzt so zum Beispiel eher an eine Hypoglycaemia factica. Um die willentliche Einnahme von Antidiabetika als Ursache der Unterzuckerung nachzuweisen, werden Urin und Serum untersucht. Labortechnisch zeigen sich darin Abbauprodukte von Sulfonylharnstoff. Wenn sich der Patient willentlich Insulin verbreicht hat, lässt sich bei erhöhtem Insulin keine C-Peptid-Erhöhung nachweisen.

Komplikationen

Durch die Hypoglycaemia factitia kommt es nicht nur zu physischen, sondern auch zu psychischen Beschwerden. In den meisten Fällen tritt eine akute Unterzuckerung des Patienten ein, bei welcher dieser im schlimmsten Falle das Bewusstsein verlieren kann. Durch den Bewusstseinsverlust kommt es nicht selten zu einem Sturz, bei welchem sich der Betroffene verletzen kann.

Weiterhin treten auch Lähmungen und Empfindungsstörungen auf. Der Betroffene kann sich nicht mehr richtig konzentrieren und ist auch nicht mehr belastbar. Es kommt zu Schwindelgefühlen und zu einer starken Übelkeit. Die Sehstärke kann ebenso abnehmen und es kommt nicht selten zu Doppelbildern oder zu einem Schleiersehen. Durch die Hypoglycaemia factitia wird die Lebensqualität des Patienten kurzzeitig extrem eingeschränkt.

Da der Betroffene in der Regel die Symptome selbst mit Absicht einleitet, kommt es auch zu psychischen Beschwerden, sodass die Betroffenen an starken psychischen Erkrankungen und Depressionen leiden. Nicht selten führt dies zu einer sozialen Ausgrenzung, bei welchen in der Regel eine Psychotherapie notwendig ist. In schwerwiegenden Fällen ist gegebenenfalls eine Behandlung in einer geschlossenen Klinik notwendig. Bei der Behandlung selbst treten allerdings keine Komplikationen auf.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Bei der Hypoglycaemia factitia ist ein Besuch bei einem Arzt in jedem Falle notwendig. Die Erkrankung kann im schlimmsten Fall zum Tod des Betroffenen oder zu ernsthaften bleibenden Schäden führen. Da es sich um eine psychische Erkrankung handelt, müssen vor allem die Angehörigen und die Freunde auf die Beschwerden der Hypoglycaemia factitia achten und den Betroffenen zu einer Behandlung führen. In der Regel leiden die Patienten an Krämpfen und an starken Muskelschmerzen.

Auch tritt eine allgemeine Lustlosigkeit und Schläfrigkeit ein, die Betroffenen können in Extremfällen auch das Bewusstsein verlieren. Weiterhin weisen dauerhafte Schwindelgefühle und Störungen der Konzentration auf die Erkrankung hin. In einigen Fällen kann es zu einer Taubheit oder zu Sehbeschwerden kommen, welche im schlimmsten Falle dauerhaft verbleiben können. Bei der Hypoglycaemia factitia sollte ein Allgemeinarzt oder ein Psychologe aufgesucht werden. Häufig ist bei der Behandlung weiterhin der Besuch einer speziellen Klinik notwendig, um die Krankheit einzuschränken.

Behandlung & Therapie

Bei einer akut bestehenden Hypoglykämie muss unverzüglich ein Ausgleich des Blutzuckers erfolgen. Einen derartigen Ausgleich schafft der Arzt bei Patienten mit einer Hypoglycaemia factitia durch die intravenöse Substitution von fünfprozentiger oder zehnprozentiger Glucose. In der Regel muss auch Kalium substituiert werden. Diese Substitution erfolgt durch den Shift in das Zellinnere.

Sobald sich der Blutzucker stabilisiert hat, kann ein Kalium-Shift der Zellen eintreten. Grundsätzlich handelt es sich bei der beschriebenen Behandlung im Rahmen einer Hypoglycaemia factitia allerdings nicht um eine kausale Therapie. Die Hypoglykämie ist in diesem Fall lediglich das Symptom einer übergeordneten Erkrankung der Psyche, die in der Regel dem Münchhausen-Syndrom entspricht.

Der Ausgleich des Blutzuckers bringt den Patienten zwar aus der Lebensgefahr, heilt ihn aber nicht vom größeren Zusammenhang. Nur durch eine kausale Therapie kann der Patient geheilt werden und wird so idealerweise nie wieder eine Hypoglykämie provozieren.

Die kausale Behandlung entspricht bei der Hypoglycaemia factitia einer Psychotherapie. Die psychotherapeutische Behandlung eines Münchhausen-Syndroms ist relativ komplex, da die Ätiologie des Krankheitsbilds bislang nicht ausreichend erforscht ist.


Vorbeugung

Der Vorbeugung einer Hypoglycaemia factitia dient vor allem eine Stabilisierung der psychischen Situation. Ironischerweise möchten Patienten mit einem Münchhausen-Syndrom einer Hypoglycaemia factitia eben nicht vorbeugen, sodass die Vorbeugung oftmals ihren Angehörigen obliegt. Wer an einer nahestehenden Person Züge eines Münchhausen-Syndroms bemerkt, setzt idealerweise alles daran, die betroffene Person alsbald in psychologische Betreuung zu übergeben.

Nachsorge

Ist ein Ausgleich des Blutzuckerspiegels erreicht, beginnt nun die Nachsorge der Hypoglycaemia factitia. Diese beinhaltet eine Therapie, die sich mit der eigentlichen Ursache befasst. Um hier anzusetzen, muss der Patient erst einmal selbst den Willen haben, sich gegen die Erkrankung zu wappnen. Die psychotherapeutische Betreuung ist deshalb sehr wichtig, damit die Betroffenen nicht mehr versuchen, die Unterzuckerung bewusst und absichtlich herbeizuführen.

Die psychischen Ursachen sind zumeist sehr komplex, darum kann sich diese Anschlusstherapie über einen längeren Zeitraum hinziehen. Gleichzeitig sollten die Angehörigen auf die typischen Anzeichen des Münchhausen-Syndroms achten, um das Risiko einzuschränken. Es gilt also, die Absichten des Patienten genauer kennenzulernen und im Notfall frühzeitig zu erkennen. Um gegen das typische Zittern und Herzrasen anzugehen, hilft eine gesunde Lebensweise.

Das Problem besteht jedoch darin, dass die Betroffenen selbst genau diese Symptome herbeiführen möchten. Doch die damit einhergehenden Sehstörungen machen sie benommen und reduzieren die Lebensqualität erheblich. Im Zuge der Nachsorge- und Selbsthilfemaßnahmen gibt es deshalb keine pauschalen Ansätze. Die Risikopatienten benötigen eine aufmerksame Betreuung und müssen von selbst darauf kommen, wie gefährlich die Unterzuckerung für ihren Organismus ist.

Das können Sie selbst tun

Die Hypoglycaemia factitia stellt eine besondere Form der Erkrankung dar, da die Patienten die typische Unterzuckerung absichtlich herbeiführen. Die vorübergehenden Beschwerden wie zum Beispiel Zittern, Herzrasen, Benommenheit und Sehstörungen schränken die Lebensqualität der betroffenen Menschen deutlich ein, allerdings ist das Erleben dieser Symptome von den Patienten gewollt. Aus diesem Grund gibt es kaum Ansatzpunkte für Selbsthilfemaßnahmen für Personen mit Hypoglycaemia factitia, zumindest nicht während einer Phase der akuten Unterzuckerung.

Die Patienten leiden zugleich an psychischen Störungen, die eine Selbsthilfe ebenfalls erschweren. Grundsätzlich muss bei den Patienten der Wille vorhanden sein, die Erkrankung zu überwinden und keine weiteren Zustände der Unterzuckerung willentlich herbeizuführen. Die bestehenden psychischen Krankheiten erschweren es oft, dass sich die Patienten in psychotherapeutische Behandlung begeben.

Teilweise führt die Hypoglycaemia factitia zu Komplikationen, die mitunter lebensbedrohlich für die Erkrankten sind. Denn im Delirium sind Stürze oder Unfälle möglich. Deshalb ist es manchmal notwendig, dass die Patienten eine Behandlung in einer geschlossenen Anstalt für psychische Erkrankungen erhalten. Die Unterstützung durch die Angehörigen und sonstige soziale Kontakte wirkt sich meist förderlich auf den Fortschritt der Therapie aus. Bei einer Heilung der psychischen Grunderkrankung verschwindet die Hypoglycaemia factitia.

Quellen

  • Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
  • Köhler, T.: Medizin für Psychologen und Psychotherapeuten. Schattauer, Stuttgart 2014
  • Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015

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