Pica-Syndrom
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 9. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Das Pica-Syndrom ist eine qualitative Essstörung. Die Betroffenen verzehren ekelerregende und unverzehrbare Substanzen, wie Lehm, Müll, Exkremente oder Gegenstände. Die Behandlung entspricht meist einer verhaltenstherapeutischen Intervention.
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Was ist das Pica-Syndrom?
Viele Frauen erleiden in der Schwangerschaft Gelüste nach ungewöhnlichen Lebensmitteln oder Kombinationen aus Lebensmitteln. Dieses Schwangerschaftssymptom hat körperliche Ursachen und wird auch als Picazismus bezeichnet. Der Ausdruck Pica-Syndrom hat sich angelehnt an den Picazismus als Bezeichnung für eine seltene Essstörung durchgesetzt. Die Betroffenen sind im Rahmen der Erkrankung von dem Konsum ungenießbarer oder ekelerregender Substanzen getrieben.
Sie nehmen häufig unverzehrbare Objekte zu sich, so zum Beispiel Papierschnipsel oder sogar Gegenstände. Lange war der Ausdruck der Allotriophagie für die Störung bezeichnend. Anders als die Bulimie oder die Anorexie ist das Pica-Syndrom keine quantitative Essstörung, sondern wird den qualitativen Essstörungen zugerechnet. Meist handelt es sich um eine Störung mit mentaler Ursache. Auch körperliche Zusammenhänge sind allerdings bekannt. Mit der Behandlung beschäftigt sich die Psychotherapie. Kinder sind davon am häufigsten betroffen.
Ursachen
Das psychoanalytische Modell diskutiert in diesem Zusammenhang eine Belastungsstörung während der oralen Phase. In Einzelfällen wird allerdings auch ein fehlendes Ernährungsbewusstsein als Ursache diskutiert, so vor allem bei geistig eingeschränkten Personen. Ernährungstheoretische Modelle weisen auf somatische Ursachen für das Pica-Syndrom hin. So handle es sich bei den Betroffenen häufig um Patienten mit einem Mineralstoffmangel. Die verzehrten Substanzen würden oft genau den Mineralstoff enthalten, der den Betroffenen fehle.
Symptome, Beschwerden & Anzeichen
Patienten des Pica-Syndroms verzehren Substanzen, die primär nicht auf dem Nahrungsplan des Menschen stehen. So lässt sich zum Beispiel häufig Geophagie, also der Verzehr von Erde beobachten. Ebenso oft werden Sand, Steine oder Papier gegessen. Genauso oft kann der Verzehr von Asche, Kalk, Pflanzenreste und Lehm beobachtet werden. Diese vier Substanzen werden am häufigsten mit den somatischen Ursachen des ernährungstheoretischen Modells in Verbindung gebracht.
Manche Patienten verzehren außerdem Dinge, die als ekelerregend gelten. Dazu zählen Staub und Abfall, aber auch Exkremente. Der Verzehr von Exkrementen ist als Koprophagie bekannt und kann schwerwiegende Infektionen hervorrufen. Zu den verbreitetesten Folgen des Pica-Syndroms zählen Verstopfung und Verdauungsbeschwerden wie Darmverschluss (Ileus). Nach dem Verzehr von giftigen Pflanzenteilen können sich außerdem Vergiftungen einstellen. Erde, Lehm und Asche rufen häufig Infektionen hervor. Anhaltender Pikazismus ist eine Fehlernährung, die Unterernährung mit Eisenmangel und Vitaminmangel verursachen kann.
Diagnose & Krankheitsverlauf
Die Diagnose des Pica-Syndroms wird nach DSM-IV gestellt. Mehrere Kriterien müssen so zur Diagnosestellung erfüllt sein. Bei den verzehrten Substanzen muss es sich um solche ohne nennenswerten Nährwert handeln. Der Verzehr muss mindestens einen Monat anhalten und darf nicht dem altersgemäßen Entwicklungsstand entsprechen. Das Essverhalten muss sich klar von der kulturbedingten Norm unterscheiden.
Bei gleichzeitig bestehenden psychischen Störungen wie Schizophrenie oder kognitiver Behinderung muss die Essstörung zur Diagnosestellung so schwerwiegend sein, dass sie besonderer Beachtung bedarf. Eine schwerwiegende Störung liegt zum Beispiel dann vor, wenn die verzehrten Substanzen gesundheitliche Beeinträchtigungen oder Unterernährung verursachen. Bei der Differentialdiagnose sind andere Störungen in Erwägung zu ziehen. Der Verzehr von Haaren tritt zum Beispiel vor allem im Rahmen einer Trichotillomanie auf, bei der die Impulskontrolle gestört ist.
Komplikationen
Vergiftungen, die mit dem Verzehr toxischer Pflanzen einhergehen können, kommen häufiger bei Kindern und Erwachsenen mit kognitiven Einschränkungen vor. Einige Menschen, die unter dem Pica-Syndrom leiden, essen getrocknete Farbanstriche oder lecken daran. Auf diese Weise sind ebenfalls Vergiftungen möglich, zum Beispiel mit Blei. Einige körperliche Komplikationen von Pica können tödlich enden, wenn sie nicht rechtzeitig behandelt werden.
Wann sollte man zum Arzt gehen?
Ungewöhnliche Vorlieben im Hinblick auf Lebensmittel können auf das Pica-Syndrom hindeuten. Ein Arztbesuch ist zu empfehlen, wenn diese Neigung das Wohlbefinden beeinträchtigt, weil beispielsweise ungesunde Speisen oder Getränke verzehrt werden. Eltern, die bei ihrem Kind ein entsprechendes Verhalten bemerken, sollten den Kinderarzt konsultieren.
Ein ansonsten normales Essverhalten ist ein deutlicher Hinweis auf das Pica-Syndrom. Dann sollte ein Mediziner eingeschaltet werden, der zunächst andere Erkrankungen ausschließen wird. Wenn das Kind eine verminderte Intelligenz aufweist oder an psychosozialen Belastungen leidet, ist besonders dringend ein Arztbesuch angezeigt. Womöglich liegen neben dem Pica-Syndrom weitere Beschwerden vor, die abgeklärt werden müssen.
Neben dem Haus- oder Kinderarzt können Kinder- und Jugendpsychologen konsultiert werden. Eine therapeutische Behandlung ist beim Pica-Syndrom in jedem Fall notwendig. Auch Erwachsene sollten einen Arzt oder Psychologen einschalten, wenn Anzeichen der Störung vorliegen und möglicherweise mit psychiatrischen Grunderkrankungen wie Demenz oder Schizophrenie verbunden sind. Spätestens, wenn infolge der gestörten Nahrungsaufnahme Mangelerscheinungen, Vergiftungen und andere gesundheitliche Probleme auftreten, ist eine ärztliche Abklärung vonnöten. Die Betroffenen sollten zügig mit dem Hausarzt sprechen und eine Verhaltenstherapie beginnen.
Behandlung & Therapie
Das Pica-Syndrom wird ursächlich behandelt. Die Therapie gilt als äußerst schwierig und langwierig. Am häufigsten entscheiden sich die betreuenden Psychotherapeuten für einen verhaltenstherapeutischen Behandlungsweg. Verhaltenstherapien setzen voraus, dass die Störung auf einer systematischen Fehleinstellung beruht. Diese Fehleinstellung wird im Rahmen der Therapie gezielt wieder verlernt. Bei der Verhaltenstherapie sollen also nicht die Wurzeln der Störung aufgedeckt werden.
Das aktuelle Verhalten und die Sicht des Menschen soll vielmehr untersucht und bei Bedarf korrigiert werden. Die Verhaltenstherapie leitet den Betroffenen also zur Selbsthilfe an und gibt ihm Strategien an die Hand, die ihm bei der Begegnung seiner Probleme helfen. Die Verhaltensanalyse steht am Anfang der Therapie. Die verhaltensstützenden Bedingungen und die Folgen des Verhaltens werden betrachtet. Kanfer entwickelte diesbezüglich das SORKC-Modell, das fünf Grundlagen für Lernvorgänge festhält.
Ein Stimulus ruft das Verhalten hervor. Der Organismus reagiert mit Kognitionen und biologisch-somatischen Bedingungen auf den Stimulus und bezieht dabei die individuell biologischen und lerngeschichtlichen Hintergründe des Betroffenen mit ein. Das Verhalten entspricht dabei einer beobachtbaren Reaktion, die auf den Stimulus und seine Verarbeitung folgt. Das Verhalten hat Kontingenz, das heißt es hängt regelhaft und zeitlich mit der Situation und der Konsequenz zusammen.
Die Konsequenz aus dem Verhalten ist eine Belohnung oder Bestrafung. Bei der Verhaltensanalyse anhand dieses Modells bezieht der Psychotherapeut Gefühle und Gedanken ebenso ein wie körperliche Prozesse oder das Patientenumfeld. Die Therapieziele werden so weit wie möglich in Zusammenarbeit mit dem Patienten entwickelt. Bei Kindern werden die Eltern regelmäßig zur richtigen Beaufsichtigung und zum raschen Handeln im Vergiftungsfall beraten.
Bei Lebensgefahr wird eine stationäre Behandlung empfohlen. Nährstoffmangel und andere somatische Ursachen werden behoben. Bei Darmverschlüssen oder anderen Folgeerscheinungen kann eine ärztliche Intervention indiziert sein.
Aussicht & Prognose
Der weitere Verlauf und die Prognose des Pica-Syndroms kann in der Regel nicht im Allgemeinen vorhergesagt werden. Da es sich dabei um eine relativ unbekanntes und unerforschtes Syndrom handelt, sind die Maßnahmen der Behandlung relativ stark eingeschränkt, wobei vor allem eine Verhaltenstherapie oder einer Psychotherapie notwendig ist, um die Beschwerden zu lindern. Der weitere Verlauf hängt auch stark vom Zeitpunkt der Diagnose ab, wobei sich eine frühe Diagnose immer sehr positiv auf den weiteren Verlauf des Pica-Syndroms auswirkt.
Wird das Pica-Syndrom nicht durch einen Arzt behandelt, so kommt es in den meisten Fällen auch nicht zu einer Selbstheilung. Die Betroffenen können sich dabei im schlimmsten Falle vergiften und an den Folgen der Vergiftung sterben. Bei Kindern kann es ohne Behandlung im weiteren Verlauf des Lebens zu schweren psychischen Beschwerden kommen.
Bei der Behandlung des Pica-Syndroms sind in erster Linie auch die Eltern des Betroffenen gefragt. Diese müssen auf die Symptome achten und rasch handeln, wenn das Kind einen ungenießbaren Gegenstand essen möchte. Die Therapie selbst kann dabei einige Monate oder sogar Jahre in Anspruch nehmen, wobei auch die Eltern eine Unterstützung benötigen. In der Regel verringert dieses Syndrom nicht die Lebenserwartung des Betroffenen.
Vorbeugung
Dem Pica-Syndrom lässt sich durch ein belastungsarmes Familienumfeld und eine ausgewogene Ernährung bis zu einem gewissen Grad vorbeugen.
Nachsorge
Betroffenen stehen beim Pica-Syndrom in den meisten Fällen nur sehr wenige und auch nur sehr eingeschränkte Maßnahmen einer Nachsorge zur Verfügung. Hierbei sollten Betroffene zuerst auf eine schnelle und vor allem auf eine frühzeitige Diagnose und Erkennung der Krankheit achten, damit es nicht zu weiteren Komplikationen und Beschwerden kommt. Je früher das Syndrom von einem Arzt erkannt wird, desto besser ist in der Regel auch der weitere Verlauf der Krankheit. Eine Selbstheilung kann nicht eintreten.
Die meisten Patienten sind dabei auf die Hilfe und die Behandlung in einer geschlossenen Klinik angewiesen. Dabei wirkt sich in erster Linie die Hilfe und auch die Unterstützung durch die eigene Familie und durch Freunde sehr positiv auf den weiteren Verlauf der Erkrankung aus. Im Allgemeinen sollte der Auslöser für das Pica-Syndrom verhindert werden.
In vielen Fällen ist die dauerhafte Überwachung durch andere Menschen notwendig, damit es nicht wieder zu den gestörten Verhaltensweisen kommt. Ein allgemeiner Verlauf kann beim Pica-Syndrom in der Regel nicht gegeben werden. Eventuell verringert diese Krankheit auch die Lebenserwartung des Betroffenen.
Das können Sie selbst tun
Bei milderen Formen des Pica-Syndroms kann es bereits helfen, wenn Betroffene das ungewöhnliche Essverhalten konsequent unterdrücken oder schrittweise reduzieren. Dieser „Stopp“ kann dadurch geübt werden, dass der Betroffene die Pica-Substanz wieder ausspuckt und den Verzehr nicht fortsetzt.
Wenn eine Gefahr für die Gesundheit besteht, ist eine ärztliche und therapeutische Unterstützung dringend zu empfehlen. Menschen mit Pica, die sich in Therapie befinden, sollten sich im Alltag vor allem darauf konzentrieren, das Gelernte anzuwenden. Jede Art der Selbsthilfe setzt voraus, dass der Betroffene reflektiert ist und das Pica-Verhalten als Problem wahrnimmt. Bei Kindern, geistig Behinderten oder akut Schizophrenen ist die Reflexionsfähigkeit oft eingeschränkt, sodass Selbsthilfe nicht immer möglich ist. In einem solchen Fall kann Hilfe von außen sinnvoll sein.
Eltern von Kindern mit Pica sollten ihre Kinder besonders gut im Auge behalten. Teilweise lassen sich gefährliche Situationen vermeiden, indem das Kind nur unter aufmerksamer Beobachtung mit verschluckbaren Kleinteilen spielt – wenn überhaupt – und ansonsten keinen Zugriff auf solche Spielsachen hat. Batterien, Magnete, Radiergummis und ähnliche Objekte sind davon ebenfalls betroffen. Auch Nahrungsmittel wie roher Reis, Artikel für Haustiere, Wasch- und Spülutensilien sollten unzugänglich aufbewahrt werden. Typische Risikosituationen im Freien entstehen durch giftige Pflanzen oder das Essen von Sand. Eltern sollten Kinder mit Pica-Syndrom zudem altersgerecht loben und belohnen, wenn diese keine ungenießbaren Substanzen essen.
Quellen
- Arolt, V., Reimer, C., Dilling, H.: Basiswissen Psychiatrie und Psychotherapie. Springer, Heidelberg 2007
- Lieb, K., Frauenknecht, S., Brunnhuber, S.: Intensivkurs Psychiatrie und Psychotherapie. Urban & Fischer, München 2015
- Möller, H.-J., Laux, G., Deister, A.: Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie. Thieme, Stuttgart 2015