Kanner-Syndrom

Medizinische Expertise: Dr. med. Nonnenmacher
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 14. März 2024
Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.

Sie sind hier: Startseite Krankheiten Kanner-Syndrom

Beim Kanner-Syndrom handelt es sich um frühkindlichen Autismus. Dabei zeigt sich die interpersonelle Kontaktstörung bereits bei Babys.

Inhaltsverzeichnis

Was ist das Kanner-Syndrom?

Die ersten Symptome des Kanner-Syndroms treten zumeist schon in den frühen Lebensmonaten auf. Besonders auffällig ist, dass die betroffenen Kinder menschliche Kontakte vermeiden oder stark beschränken, was auch für die Eltern und Geschwister gilt.
© Roman Yanushevsky – stock.adobe.com

Das Kanner-Syndrom ist auch als Kanner-Autismus, infantiler Autismus oder frühkindlicher Autismus bekannt. Dabei handelt es sich um eine Autismusform, deren Beginn schon vor dem dritten Lebensjahr einsetzt. Das Syndrom gilt als tiefgreifende Entwicklungsstörung und zeigt sich häufiger bei Jungen als bei Mädchen.

Als Namensgeber des Kanner-Syndroms diente der österreichisch-amerikanische Kinder- und Jugendpsychiater Leo Kanner (1894-1981), der als Begründer der Kinder- und Jugendpsychiatrie in den USA gilt. Im Jahr 1943 wurde von Kanner eine autistische Störung des affektiven Kontakts bei mehreren Kindern festgestellt. Später erhielt diese Erkrankung die Bezeichnung „frühkindlicher Autismus“.

Das Kanner-Syndrom gehört zu den schweren Autismus-Formen. So werden die betroffenen Kinder in ihrem Verhalten, ihrer Sprache sowie in ihren sozialen Interaktionen beeinträchtigt. Bereits im Babyalter weisen sie eine auffällige Andersartigkeit auf, weichen Blickkontakten aus und zeigen keinerlei Reaktionen auf Mimik oder Gestik.

Gefühle werden von ihnen nicht verstanden oder falsch gedeutet. Stattdessen sind ihnen Gegenstände wichtiger als Menschen und sie spielen lieber mit ihren Eltern oder allein als mit anderen Kindern.

Ursachen

Die Ursachen für das Kanner-Syndrom sind in der Regel genetischer Natur. So ergaben Studien bei 70 bis 90 Prozent aller untersuchten eineiigen Zwillinge Autismus bei beiden Kindern. Dagegen betrug der Autismus-Anteil bei zweieiigen Zwillingen lediglich circa 23 Prozent.

Wodurch das Kanner-Syndrom genau entsteht, konnte bislang nicht hinreichend erklärt werden. Es wird vermutet, dass neben genetischen Faktoren auch funktionelle oder strukturelle Gehirnveränderungen eine Rolle spielen. Bei etwa jedem dritten betroffenen Kind treten im Laufe der Erkrankung Krampfanfälle auf. Außerdem sind neurobiologische Auffälligkeiten wie Essstörungen oder unnormales Schreien zu verzeichnen.

Untersuchungen des Hirnstoffwechsels ergaben Unterschiede zur allgemeinen Bevölkerung. So fällt das Hirnvolumen der erkrankten Kinder im Unterschied zu Gleichaltrigen größer aus. Außerdem läuft das Hirnwachstum während der Schwangerschaft sowie in den ersten Lebensjahren schneller ab. Des Weiteren können Störungen der emotionalen und kognitiven Entwicklung vorliegen.

Symptome, Beschwerden & Anzeichen

Die ersten Symptome des Kanner-Syndroms treten zumeist schon in den frühen Lebensmonaten auf. Besonders auffällig ist, dass die betroffenen Kinder menschliche Kontakte vermeiden oder stark beschränken, was auch für die Eltern und Geschwister gilt. Stattdessen interessieren sie sich mehr für Gegenstände und nehmen nur Kontakt mit anderen Menschen auf, wenn es um ihre eigenen Bedürfnisse geht.

Diese Gefühlskälte der Kinder macht besonders deren Eltern zu schaffen. So gibt es weder Anteilnahme, Fröhlichkeit oder Wut. Sogar Blickkontakte zur Mutter werden vermieden. Außerdem schließen die autistischen Kinder keine Freundschaften und spielen lieber allein. Gefühle werden von Kindern, die unter dem Kanner-Syndrom leiden, nicht verstanden. Auch von ihnen selbst gehen keine spontanen Gefühlsregungen aus. Oftmals werden Gefühle von ihnen falsch interpretiert.

Ein weiteres typisches Symptom des Kanner-Autismus ist eine Störung der Sprachentwicklung. So sind die Betroffenen kaum in der Lage, sich zu artikulieren und verfügen nur über einen beschränkten Wortschatz. Oft wird ein beliebiger Satz ständig wiederholt oder Gesprochenes sinnlos nachgeplappert. Da die Sprache sehr monoton klingt, erinnert sie an einen Roboter.

Beim Spielen befolgen die Kinder immer wieder ein bestimmtes phantasieloses Muster. Wird ihr Spiel von anderen Menschen unterbrochen, reagieren sie unruhig oder sehr ängstlich. Bei circa 70 Prozent aller Kinder mit einem Kanner-Syndrom liegen geistige Behinderungen vor, die mit verminderter Intelligenz einhergehen.

Zu außergewöhnlichen Begabungen kommt es beim Kanner-Autismus nur sehr selten. Mitunter kichern die betroffenen Kinder grundlos vor sich hin und unterschätzen alltägliche Gefahren wie den Straßenverkehr. Darüber hinaus treten Essstörungen, Schlafstörungen und Selbstverletzungen auf.

Diagnose & Krankheitsverlauf

Bedeutender Bestandteil der Diagnose sind die Krankengeschichte (Anamnese) sowie eine klinische Beobachtung des Kindes durch den Arzt. Dabei greift der Mediziner auf Skalen zurück, die ihm als Hilfsmittel dienen. Wichtig ist zudem die Differentialdiagnose. So können ähnliche Symptome auch beim Rett-Syndrom, dem Asperger-Syndrom, einer Oligophrenie (Minderbegabung) oder einer Schizophrenie auftreten.

Der Verlauf des Kanner-Syndroms ist oft negativ. So lässt sich die Erkrankung nicht heilen. Liegen jedoch keine neurologischen Auffälligkeiten oder Epilepsie vor, lässt sich dennoch eine positive Prognose erzielen. Gleiches gilt, wenn sich die Sprache bis zum sechsten Lebensjahr verhältnismäßig gut entwickelt und der Intelligenzquotient mehr als 80 beträgt.

Komplikationen

Das Kanner-Syndrom geht typischerweise mit einer verringerten Intelligenz einher. Daraus können sich lebenspraktische Komplikationen ergeben, wenn der Betroffene im Erwachsenenalter nicht selbstständig leben kann. Einige Autisten sind lebenslang auf Unterstützung angewiesen. Auch beim Asperger-Syndrom sind Einschränkungen im Alltag möglich – im Durchschnitt sind sie jedoch schwächer ausgeprägt als beim Kanner-Syndrom.

Insbesondere schwächere Ausprägungen von Autismus müssen sich nicht auf die Lebensgestaltung auswirken. Darüber hinaus treten bei Personen mit Kanner-Autismus verschiedene neurologische Störungen häufiger auf. Zu diesen Erkrankungen gehört zum Beispiel Epilepsie.

Die Krampfanfälle können weitere Komplikationen nach sich ziehen: Stürze, ungewollte Selbstverletzung und der Verschluss der Atemwege gehören dazu ebenso wie die allgemeine Belastung, die während eines epileptischen Anfalls für den Körper entsteht. Auch mit Behandlung sind verschiedene Komplikationen möglich. Insbesondere die Applied Behavior Analysis (ABA) gerät zunehmend in die Kritik.

Die verhaltenstherapeutische Methode beruht auf der operanten Konditionierung und verstärkt erwünschtes Verhalten, während unerwünschtes Verhalten bestraft wird. ABA kommt vor allem bei Kindern zur Anwendung. Manche Formen der ABA setzen aversive Reize ein, die für das autistische Kind unangenehm sind, obwohl sie ihm keinen körperlichen Schaden zufügen.

Die Literatur berichtet in diesem Zusammenhang inzwischen mehrfach von traumatischen Folgen, die durch ABA entstanden sind. Umgekehrt kann ABA jedoch auch fördernd wirken. Aus diesem Grund ist eine sorgfältige Anwendung der Methode erforderlich.

Wann sollte man zum Arzt gehen?

Das Kanner-Syndrom macht sich in aller Regel schon in den ersten Lebensjahren bemerkbar. Eltern, die bei ihrem Kind eine Gefühlskälte oder andere typische Symptome bemerken, sollten einen Kinderarzt hinzuziehen. Das seltene Syndrom kann symptomatisch behandelt werden, wenn frühzeitig darauf eingegangen wird. Die Eltern sollten einen Allgemeinmediziner oder einen Neurologen aufsuchen und gemeinsam mit diesem eine Therapie ausarbeiten. Im Rahmen der Behandlung sind weitere Besuche bei Ergotherapeuten, Internisten und Psychologen angezeigt.

Kinder, die Anzeichen einer Depression zeigen, sollten einem Therapeuten vorgestellt werden. Wenn es zu Krampfanfällen oder epileptischen Anfällen kommt, muss der Notarzt alarmiert werden. Betroffene Kinder benötigen in der Regel ein Leben lang Unterstützung. Die Angehörigen müssen engen Kontakt mit verschiedenen Ärzten und Therapeuten halten und diese regelmäßig über die Konstitution des Betroffenen informieren. Sollten sich ungewöhnliche Symptome einstellen oder gar Komplikationen auftreten, muss dies sofort von einem Arzt abgeklärt werden. Im Zweifelsfall kann zunächst der ärztliche Notdienst kontaktiert werden.

Behandlung & Therapie

Eine ursächliche Therapie des Kanner-Autismus ist nicht möglich. Daher zeigen sich die Symptome des Betroffenen sein ganzes Leben lang. Im Laufe der Jahre werden sie jedoch etwas abgemildert. Im Rahmen der Behandlung sollen die kommunikativen und sozialen Eigenschaften des Patienten verbessert werden. Je eher die Therapie einsetzt, desto größer sind die Erfolgschancen.

Das soziale Umfeld des Kindes hat ebenfalls Anteil an der Behandlung. Zu den Trainingsschwerpunkten der frühautistischen Kinder zählen Selbstständigkeit, soziale Kompetenz und Kommunikation, Sprachfähigkeit durch logopädisches Sprechtraining sowie Selbstkontrolle. Als unterstützende Behandlungsmaßnahmen eignen sich Schwimmen mit Delfinen, eine Reittherapie oder eine Musiktherapie.

Da das Kanner-Syndrom oftmals mit weiteren Erkrankungen wie Depressionen oder Epilepsie verbunden ist, kann die Gabe von Medikamenten wie Serotonin-Wiederaufnahmehemmern (SSRI) sinnvoll sein. Allerdings reagieren Menschen, die unter Autismus leiden, oft empfindlich auf Medikamente, wodurch eine erhöhte Gefahr von Nebenwirkungen besteht.


Aussicht & Prognose

Damit Eltern auch im häuslichen Umfeld möglichst effizient bei der Therapie mithelfen können, müssen zunächst die individuellen Stärken und Schwächen des betroffenen Kindes ermittelt und gemeinsam mit Ärzten ein Behandlungsplan aufgestellt werden.

Das Hauptaugenmerk muss darauf liegen, dem Kind niemals zu vermitteln, dass es sich von anderen Kindern unterscheidet oder krank ist. Das Kind sollte nicht mit dem Bewusstsein aufwachsen, dass etwas mit ihm nicht in Ordnung ist. Besser ist es die Einzigartigkeit eines Jeden hervorzuheben und zu zeigen, dass jeder Mensch seine Stärken und Schwächen hat.

Ein regelmäßiges Verhaltenstraining hilft dem Kind zu lernen, wie es sich in gewissen Situationen besser verhalten kann und hilft unter Umständen dabei etwaige Ticks zu kontrollieren. Dies sollte allerdings auf keinen Fall zu einer Dressur ausarten, bei dem die Natürlichkeit des Kindes durch neue Regeln verändert wird. Vielmehr ist es wichtig dem Kind sanft Möglichkeiten der Reaktion aufzuzeigen und die Problemlösung Schritt für Schritt anzugehen.

Je nach Entwicklungsstand und psychischer Reife des Kindes können zusätzlich physiotherapeutische Maßnahmen und eine logopädische Behandlung begonnen werden, die teilweise auch zu Hause in den Alltag integriert werden können. Durch eine frühzeitige Kontaktaufnahme zu Kindergärten und Schulen kann, je nach Institut, auch dort eine individuelle Förderung vor Ort erreicht werden.

Vorbeugung

Es gibt keine Möglichkeit, dem Kanner-Syndrom wirksam vorzubeugen. So sind seine genauen Ursachen noch nicht bekannt.

Nachsorge

In den meisten Fällen stehen Patienten beim Kanner-Syndrom keine besonderen und direkten Möglichkeiten einer Nachsorge zur Verfügung, sodass die Krankheit in erster Linie durch einen Arzt untersucht und behandelt werden muss. Nur so können weitere Komplikationen oder eine weitere Verschlechterung der Beschwerden verhindert werden. Daher sollten Betroffene schon bei den ersten Anzeichen und Symptomen der Erkrankung einen Arzt kontaktieren.

Im Allgemeinen wirkt sich beim Kanner-Syndrom eine frühzeitige Diagnose sehr positiv auf den weiteren Verlauf der Krankheit aus. In der Regel ist eine vollständige Heilung nicht möglich, sodass Betroffene beim Kanner-Syndrom auf die Unterstützung und die Hilfe der Freunde und der eigenen Familie angewiesen sind. Dabei ist eine intensive Pflege notwendig, um die sozialen Kompetenzen zu steigern und weitere Beschwerden zu verhindern.

Ebenso sind auch intensive und liebevolle Gespräche mit den Betroffenen notwendig, damit es nicht zu Depressionen oder zu anderen psychischen Verstimmungen kommt. Häufig sind auch Therapien mit Musik oder mit Delfinen sehr hilfreich, um die Beschwerden des Kanner-Syndroms zu lindern. Da das Syndrom in einigen Fällen durch die Einnahme von Medikamenten behandelt wird, ist auf eine regelmäßige Einnahme und auch auf die vorgegebene Dosierung zu achten.

Das können Sie selbst tun

Kinder, die unter dem Kanner-Syndrom leiden, bedürfen einer individuellen Therapie, die auf Symptome und Leiden abgestimmt ist.

Vor allem regelmäßiges Verhaltenstraining ist wichtig. Das Kind soll lernen, sich zu integrieren und etwaige Ticks zu kontrollieren. Hier sind vor allem die Eltern gefragt, die sich mit dem Kind und der Erkrankung beschäftigen müssen und gemeinsam mit dem Arzt und dem Psychologen eine adäquate Therapie ausarbeiten sollten. Ziel ist es, die Stärken und Schwächen des Kindes zu ermitteln und diese dann gezielt zu fördern bzw. zu behandeln. In manchen Fällen kann Krankengymnastik und/oder Logopädie in die Behandlung mit aufgenommen werden. Welche Maßnahmen sinnvoll sind, hängt ganz vom Entwicklungsstand und der seelischen Reife des Kindes ab. Ein Therapeut muss beurteilen, ob eine bestimmte Therapie in Frage kommt oder ob weitere Untersuchungen notwendig sind.

Grundsätzlich sollten Eltern dem Kind aber nicht den Eindruck vermitteln, dass es anders oder sogar krank ist. Besser ist es, ein Kind mit frühkindlichen Autismus anzunehmen wie es ist und die Probleme nach und nach anzugehen. Hierfür ist es sinnvoll, mit Schulen und Kindergärten Kontakt aufzunehmen und dem Kind eine individuelle Förderung zu ermöglichen.

Quellen

  • Gortner, L., Meyer, S., Sitzmann, F.C.: Duale Reihe Pädiatrie. Thieme, Stuttgart 2012
  • Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2016
  • Steinhausen, H.-C. (Hrsg.): Psychische Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Urban & Fischer, München 2010

Das könnte Sie auch interessieren