Kraftsinn
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 25. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Der Kraftsinn oder Widerstandssinn ist eine Wahrnehmungsqualität der interozeptiven Tiefensensibilität und bildet einen Teil des kinästhetischen Systems. Durch den Kraftsinn kann der Mensch den eigenen Kraftaufwand bei Bewegungen abschätzen und so Zug und Druck koordinieren. Bei extrapyramidalen Läsionen ist der Kraftsinn gestört.
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Was der Kraftsinn?
Die menschliche Wahrnehmung wird in Interozeption und Exterozeption unterschieden. Die Exterozeption ist die Wahrnehmung von äußeren Reizen. Die Interozeption entspricht der Reizwahrnehmung aus dem eigenen Körper. Die Propriozeption ist ein Teil der Interozeption. Diese Wahrnehmungsart umgreift alle Sinneseindrücke zur Wahrnehmung von eigenen Körperbewegungen und der Lage im Raum.
Für die Propriozeption ist die sogenannte Tiefensensibilität entscheidend. Dabei handelt es sich um den Muskelsinn (Kraftsinn), der unterschiedliche Wahrnehmungsqualitäten besitzt. Neben der Abschätzung von eigener Muskelkraft erlaubt der Muskelsinn dem Menschen die gezielte Bewegung gegen Widerstand.
Der Muskelsinn ermöglicht die Bewegung einzelner Muskelgruppen und die Wahrnehmung von Druckverteilungen. Er ermöglicht so bei der Muskelbewegung die Dosierung von Druck und Zug. Diese Wahrnehmungsqualitäten der Tiefensensibilität werden Kraftsinn oder Widerstandssinn genannt. Zusammen mit dem Stellungssinn zur Wahrnehmung der aktuellen Ausgangstellung und dem Bewegungssinn zur Rezeption von Bewegungsausmaßen oder Lageveränderungen bildet der Kraftsinn die Gesamtheit des kinästhetischen Systems.
Funktion & Aufgabe
Propriozeptoren in den Muskeln und Sehnen geben permanent Auskunft über den Spannungszustand der Muskeln. Zu den Propriozeptoren zählen die Muskel- und Sehnenspindeln. Die Muskelspindeln erfassen die Länge der Skelettmuskeln. Sie werden von intrafusalen Muskelfasern gebildet, die ihre Afferenzen in Nervenfasern der Ia-Klasse haben. Die sekundär afferente Innervation der Muskelspindeln ist durch Nervenfasern der Klasse II gegeben. Die efferente Innervation der Strukturen übernehmen gamma-Motoneuronen. Sie steuern vor allem die Empfindlichkeit der Spindel.
Sehnenspindeln liegen wiederum zwischen Muskel- und Sehnenfasern. Sie werden von gebündelt kollagenen Fasern gebildet, die durch eine bindegewebige Kapsel umschlossen sind. Sie sind mit den Muskel- und Sehnenfasern verbunden und werden durch afferente Ib-Nervenfasern versorgt. Sobald ein Muskel kontrahiert und damit verkürzt wird, dehnen sich die Kollagenfasern in den Sehnenspindeln. Daraufhin polarisieren die Spindeln und leiten den Reiz mit Informationen zur Reizstärke ins Rückenmark weiter.
Dort üben die Ib-Neuronen durch Interneurone einen hemmenden Einfluss auf die Motoneuronen des gereizten Muskels aus und stimulieren die Motoneurone des jeweiligen Muskelantagonisten. Über aufsteigende Nervenbahnen erreichen die Impulse den Tractus spinocerebellaris anterior, posterior und das Kleinhirn.
Durch den Kraftsinn kann der Mensch Widerstände gegen Bewegungen abschätzen und das Gewicht von Objekten abschätzen. Diese Informationen erhält er anhand der Muskelspannung, die bei einer bestimmten Bewegung anfällt. Die erworbenen Informationen werden in einem sinnesspezifischen Gedächtnis abgelegt und helfen dem Menschen in Zukunft bei der genauen Koordination und Planung von Muskelkraft im Rahmen einer bestimmten Bewegung.
Ohne den Kraftsinn wäre Bewegungsplanung und Krafteinschätzung nicht möglich. Menschliche Bewegungen wären ohne die Wahrnehmungsqualität ungeschickt und nicht zielführend.
Der Kraftsinn ist zwar eine interozeptive Wahrnehmungsqualität, trägt aber auch zur rezeptiven Informationsbeschaffung über die äußere Welt bei. Das gilt vor allem für Informationen über das Gewicht bestimmter Objekte. Einschätzungen zum Gewicht oder zur Stärke eines Widerstands hängen von der Muskelkraft des Einzelnen ab und sind dementsprechend subjektiv geprägt.
Krankheiten & Beschwerde
Das extrapyramidale System erfasst alle Bewegungssteuervorgänge außerhalb des Pyramidensystems. Schädigungen dieses Systems sind vor allem durch ein Fehlen des hemmenden Einflusses gekennzeichnet, den das obere Motoneuron zur Koordinierung von Bewegungen ausübt. Die Bewegungsabläufe von Patienten mit extrapyramidalen Läsionen wirken dadurch stark übersteigert. Jede extrapyramidale Schädigung zeigt somit Auswirkungen auf den Kraftsinn. Die Betroffenen empfinden das Gewicht der eigenen Gliedmaßen häufig als schwer und wenden dadurch ungleich mehr Kraft zur Ausführung kleinster Bewegungen auf.
Durch die extrapyramidale Schädigung haben sie das Gefühl, Bewegungen stets gegen Widerstand auszuführen. Der empfundene Widerstand wird nach außen projiziert und lässt die Patienten aus diesem Grund unnötig viel Kraft zur Wiederstandüberwindung aufwenden. Die Betroffenen sind daher oft nicht mehr zur adäquaten Dosierung von Druck und Zug in der Lage. In manchen Fällen ist die Bewegung auch allgemein verlangsamt, da sie entgegen empfundenen Widerstand vonstatten geht.
Diese Art der zentralen Nervenschädigung ist für Krankheiten wie Multiple Sklerose charakteristisch. Dabei handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung, die das Immunsystem Entzündungen im zentralen Nervensystem hervorrufen lässt. Durch die Entzündungen sterben Neuronen oft irreversibel ab. Häufig treten Bewegungsstörungen wie das beschriebene Phänomen ein.
Neben dieser Erkrankung können auch Traumata oder Rückenmarksinfarkte das beschriebene Phänomen bedingen. Eine ebenso denkbare Ursache sind Tumorerkrankungen der Wirbelsäule.
Quellen
- Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
- Froböse, I. et al.: Bewegung und Training. Urban & Fischer, München 2002
- Hollmann, W.: Sportmedizin. Grundlagen für körperliche Aktivität, Training und Präventivmedizin. Schattauer, Stuttgart 2009