Stereognosie
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 20. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Die Stereognosie ist die Fähigkeit, Objekte auf Basis der bloßen Tasterfahrung zu erkennen. An dieser Fähigkeit ist neben den einzelnen Komponenten des Tastsinns vor allem die postzentrale Region des Parietallappens beteiligt. Läsionen in diesen Regionen können diese Fähigkeit stören und eine sogenannte Astereognosie (Stereoagnosie) bedingen.
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Was ist die Stereognosie?
Die postzentralen Hirnbereiche des Parietallappens spielen für den menschlichen Tastsinn eine entscheidende Rolle. Auf diesen Abschnitten des Gehirns beruht mitunter die Fähigkeit, Formen und Konsistenzen durch Tastvorgänge zu erkennen und das ertastete Objekt aufgrund seiner spezifischen Eigenschaften einem bestimmten Gegenstand zuzuordnen. Diese Fähigkeiten werden mit dem Begriff der Stereognosie zusammengefasst.
Stereoagnosie hängt zum einen von den intakten Strukturen des Tastsinns und zum anderen von der Interpretationsfähigkeit des Einzelnen ab. Die absolute Unfähigkeit zur Objekterkennung mittels Tastvorgängen wird in der Medizin Stereoagnosie genannt. Von der Stereognosie zu unterscheiden ist die Stereoästhesie. Diese Fähigkeit ist eine Grundvoraussetzung für Stereognosie, sie ist allerdings nicht als Synonym dazu anzusehen. Die Stereoästhesie beruht auf einer Kombination aus epikritischer Sensibilität und Tiefensensibilität und ist eine der komplexesten Qualitäten der Tastsensibilität. Ein Ausfall dieser Fähigkeit wird Stereoanästhesie genannt und hat automatisch eine gleichzeitige Stereoagnosie zur Folge.
Funktion & Aufgabe
Die Stereognosie ist eine Qualität der haptischen Wahrnehmung. An jeder haptischen Wahrnehmung sind unterschiedliche Rezeptoren beteiligt, so vor allem die Mechanorezeptoren. Sie sind für Dehnungs-, Druck- und Vibrationsreize empfänglich und werden auf eine Anzahl von bis zu 600 Millionen innerhalb der Hautschichten geschätzt. Die häufigsten Mechanorezeptoren sind die Vater-Pacini-Körperchen für Vibrationsreize bis zu 300 Hz, die Meissner-Körperchen für Druckveränderungen, die Merkel-Zellen für anhaltende Druckreize und die Ruffini-Körperchen für Gewebsdehnung. Auch die Körperhaare des Menschen sind mit solchen Berührungssensoren ausgestattet. Diese Sensoren werden von den berührungssensiblen Nervenendigungen in der oberen Hautschicht vervollständigt.
Anders als andere Sinneswahrnehmungen ist die haptische Wahrnehmung auf eine Integration von multiplen Informationen aus verschiedenen Rezeptoren angewiesen. Die Rezeptordichte an den Fingerspitzen ist äußerst hoch und ist damit für die Stereognosie besonders ausschlaggebend. Die Informationen der einzelnen Rezeptoren wandern über afferent sensorische Nervenbahnen ins Rückenmark und erreichen über den Thalamus die Großhirnrinde. Innerhalb des Thalamus unterliegen die Informationen einer Verschaltung im Nucleus ventralis posterior. Die ansässigen Neuronen projizieren in die sekundär und primär somatosensorischen Gebiete.
Die kortikale Verarbeitung setzt sich über Afferenzen zum Parietallappen fort. Dessen posteriore Regionen in den Brodmann-Arealen 5 und 7 sind für die Stereognosie besonders entscheidend. Auch die somatosensorischen Regionen und die temporal parietalen Areale 22, 37, 39 und 40 spielen dabei eine Rolle. Dasselbe gilt für die Insula und die temporalen oder frontalen Assoziationskortizes. Die multisensorische Integration wird vor allem von den Neuronen im posterioren Parietalkortex vorgenommen. Diese Areale entscheiden über sämtliche Kognition, die auf Basis der Wahrnehmungen stattfindet. Die Verbindungen zur Insula helfen bei der Zuordnung von Forminformationen zu einem Gegenstand und steuern affektive Komponenten. Im Temporallappen finden Gedächtnisprozesse auf Basis der vorausgegangenen Tasterfahrungen statt, die bei der Objekterkennung helfen.
Die Stereognosie hängt zum einen von der Unversehrtheit der beschriebenen Strukturen ab und wird zum anderen von Assoziationsketten und gespeicherten Tasterfahrungen in den jeweiligen Gehirngebieten beeinflusst.
Krankheiten & Beschwerden
Eine Stereoagnosie kann sich auf verschiedene Weise äußern. Wenn zum Beispiel afferente Bahnen geschädigt sind, erreichen die Tastinformationen das Gehirn überhaupt nicht mehr und können so auch nicht der Objekterkennung dienen. Auch wenn die Tastinformationen das Gehirn erreichen, führen sie nicht zwingend zur Objekterkennung. Wenn beispielsweise der Speicher für Tastinformationen von Läsionen betroffen ist, kann der Patient das Objekt trotz der beim Betasten wahrgenommenen Objekteigenschaften nicht mehr einordnen, da ihm dazu der Bezugsrahmen fehlt. In diesem Fall ist die Weiterleitung und Verarbeitung der Informationen zwar intakt, aber es fehlt an der Interpretationsfähigkeit. Auch Probleme bei der multisensorischen Integration können eine Stereoagnosie begünstigen. Laut derzeitigem Wissensstand können solche Integrationsstörungen eine genetische Komponente haben und damit angeboren sein.
Auch die neurologische Erkrankung Multiple Sklerose geht häufig mit einer Stereoagnosie einher. Bei der Erkrankung handelt es sich um eine Autoimmunerkrankung. Das Immunsystem identifiziert körpereigenes Nervengewebe des zentralen Nervensystems dabei als Gefahr und attackiert es. Die Antikörper rufen Entzündungen im Gehirn oder Rückenmark hervor und können damit auch die leitenden Bahnen für sensorische Informationen treffen. Ebenso können sie in verarbeitungsbeteiligten Gehirnarealen wie den postzentralen Hirnbereichen des Parietallappens Entzündungen hervorrufen und damit die Grundlage für die Stereognosie schädigen. Je nachdem, wo genau die Entzündung gelegen ist, kann sich eine so verursachte Zerstörung von zentralnervösem Gewebe als Stereoagnosie verschiedener Art manifestieren.
Alle Arten der Stereoagnosie haben eins gemeinsam: Objekte können mit geschlossenen Augen nicht mehr auf Basis der bloßen Tasterfahrung erkannt werden.
Quellen
- Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
- Herold, G.: Innere Medizin. Selbstverlag, Köln 2016
- Mattle, H., Mumenthaler, M.: Neurologie. Thieme, Stuttgart 2013