Hirnstammreflexe
Qualitätssicherung: Dipl.-Biol. Elke Löbel, Dr. rer nat. Frank Meyer
Letzte Aktualisierung am: 11. März 2024Dieser Artikel wurde unter Maßgabe medizinischer Fachliteratur und wissenschaftlicher Quellen geprüft.
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Unter dem Begriff Hirnstammreflex werden alle Reflexe zusammengefasst, die unter Umgehung des Bewusstseins vom Hirnstamm über efferente Fasern der entsprechenden Hirnnerven direkt an die Effektororgane – meist bestimmte Muskeln – geleitet werden. Hirnstammreflexe, die zum Schutz vor drohenden Verletzungen dienen, spielen bei der Feststellung des Hirntodes vor einer Organentnahme eine entscheidende Rolle. Wenn bei der Prüfung der Hirnstammreflexe nur einer der Reflexe funktioniert, liegt kein Hirntod vor, so dass kein Organ zwecks Organspende entnommen werden darf.
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Was sind Hirnstammreflexe?
Hirnstammreflexe werden durch den Hirnstamm nach Empfang entsprechender sensorischer Meldungen ausgelöst. Meist werden motorische „Anweisungen“ direkt an die Effektororgane, d. h., an bestimmte Muskeln geleitet. Charakteristisch für Hirnstammreflexe ist ihre geringe Latenzzeit vom Erhalt der Sensormeldungen bis zur Ausführung des Reflexes.
Die kurze Reaktionszeit wird durch weitestgehende Umgehung des Bewusstseins erreicht. Die ankommenden Sensorsignale werden nicht erst von bestimmten Gehirnregionen prozessiert und für eine adäquate Beurteilung zusammengefasst, um eine willentliche Reaktion einzuleiten, sondern ohne Umwege in direktes Aktionspotential umgesetzt.
Da das Bewusstsein bei diesem Prozess weitestgehend umgangen wird, funktionieren die Reflexe auch bei tiefer Bewusstlosigkeit, so dass die Schutzfunktion des Körpers auch bei vorübergehender Bewusstlosigkeit erhalten bleibt.
Im Einzelnen handelt es sich um den Pupillenreflex, den Lidschlussreflex, den vestibulookulären Reflex (VOR) und um den Husten- und den Würgreflex. Pupillen- und Lidschlussreflex werden in der Regel bei einem bewusstlosen Unfallopfer routinemäßig überprüft. Bei Anleuchtung einer der beiden Pupillen mit einer Diagnostikleuchte sollten sich beide Pupillen auffällig verengen und bei Berührung der Hornhaut wird als automatische Reaktion ein Lidschluss erwartet.
Funktion & Aufgabe
Entscheidend für die Wirksamkeit der Schutzfunktion der Hirnstammreflexe ist eine extrem kurze Reaktionszeit im Bereich von Millisekunden. Das bedeutet, dass das Bewusstsein innerhalb des Reflexbogens nicht beteiligt sein kann, da der Zeitbedarf für eine Prozessierung der eingehenden Signale zu hoch wäre. Die Umgehung des Bewusstseins hat gleichzeitig den Vorteil, dass die Schutzfunktion auch bei Bewusstlosigkeit erhalten bleibt.
Der Würgreflex und der vestibulookuläre Reflex nehmen eine gewisse Ausnahmestellung ein. Der Würgrelfex kann bis zu einem gewissen Grad willentlich beeinflusst bzw. unterdrückt werden. Das setzt meist voraus, dass sich die Person bereits vor Einsetzen des Würgreflex darauf konzentrieren kann, etwa bei der Einführung einer Magensonde.
Eine noch größere Sonderrolle nimmt der vestibulookuläre Reflex ein. Er hat weniger eine direkte Schutzfunktion, als vielmehr praktische Aufgaben, die zur Bewältigung täglicher Bewegungsanforderungen wichtig sind. Aufrechtes Gehen, Laufen und ähnliche Bewegungsabläufe können nur mit intaktem vestibulären Augenreflex bewältigt werden. Er hat die Aufgabe, ein Objekt trotz schneller Kopfbewegungen weiter scharf sehen zu können. Der VOR sorgt für eine Nachführung der Augen entgegen der Kopfbewegung, was in etwa mit einer kreiselstabilisierten Kamera vergleichbar ist. Das bedeutet, dass wir etwa beim Joggen das Umfeld weiterhin relativ scharf im Blickfeld haben, trotz der schnellen Auf- und Abbewegungen des Kopfes. Der VOR wird von den Bogengängen und den Otolithenorganen des Gleichgewichtssinns gesteuert. Die Bogengänge reagieren auf Dreh- und die Otolithenorgane auf Linearbeschleunigungen. Die Augen werden jeweils entgegen der erfahrenen Beschleunigung bewegt. Das funktioniert auch, wenn nicht nur der Kopf, sondern der ganze Körper einer Beschleunigung unterliegt.
Krankheiten & Beschwerden
Eine übergeordnete – meist reversible - Störung der Reflexe kann sich aufgrund von Nerventoxinen oder auch durch Konsum von Alkohol oder anderen Drogen einstellen. Bei Ausfall des Pupillenreflexes und des Lidschlussreflexes an einem oder an beiden Augen fällt die Schutzfunktion weg, so dass der Betroffene hinsichtlich möglicher Hornhautverletzungen und hinsichtlich Blendung durch starke Lichtquellen extrem vorsichtig sein muss.
Ein Ausfall des Hustenreflexes hat gravierendere Auswirkungen auf den Betroffenen als der Ausfall des Würgreflexes, da es bei inaktiviertem Hustenreflex leicht zum Eindringen von Fremdkörpern – auch Flüssigkeiten – in die Luftröhre kommen kann, mit teilweise gravierenden Folgen bis hin zur Erstickungsgefahr.
Weil der VOR weniger eine Schutzfunktion ausübt als vielmehr ständig zur Unterstützung von Bewegungsabläufen benötigt ist, wirkt sich eine Funktionsbeeinträchtigung besonders gravierend aus. Bereits normales Gehen ist dann nur noch unter erschwerten Bedingungen möglich. Falls die Vestibularorgane selbst Funktionsstörungen aufweisen, z. B. infolge von Durchblutungsstörungen oder starkem Alkoholkonsum, kann es nicht nur zu Drehschwindelanfällen und Übelkeit kommen, sondern der VOR folgt dann den irreführenden sensorischen Meldungen der Vestibularorgane und es kommt zu unbewussten, störenden Augenbewegungen oder Augenzittern (Nystagmus), die die Situation deutlich verschlimmern.
Bei bewusstlosen, verunfallten Personen, bei denen der Verdacht auf Hirntod besteht, dient die Prüfung der Hirnstammreflexe als wichtiges Kriterium für die Feststellung des Hirntods, falls eine Entscheidung über die Entnahme eines Organs zwecks Organspende getroffen werden muss.
Quellen
- Berlit, P.: Basiswissen Neurologie. Springer, Berlin 2007
- Grehl, H., Reinhardt, F.: Checkliste Neurologie. Thieme, Stuttgart 2012
- Hacke, W.: Neurologie. Springer, Heidelberg 2010